1000 Jahre Wingershausen - 7. August 2016

Festpredigt von Kirchenpräsident Dr. Volker Jung

Foto: ekhn
Foto: ekhn

 

 

1000 Jahre Wingershausen, 7. August 2016 (11. nach Trinitatis)

 

 

 

Aber Gott, der reich ist an Barmherzigkeit, hat in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, auch uns, die wir tot waren in den Sünden, mit Christus lebendig gemacht – aus Gnade seid ihr selig geworden –; und er hat uns mit auferweckt und mit eingesetzt im Himmel in Christus Jesus, damit er in den kommenden Zeiten erzeige den überschwänglichen Reichtum seiner Gnade durch seine Güte gegen uns in Christus Jesus. Denn aus Gnade seid ihr selig geworden durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es, nicht aus Werken, damit sich nicht jemand rühme. Denn wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, dass wir darin wandeln sollen. Epheser 2,4-10

 

 

 

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder,

 

die Worte, die ich gerade gelesen habe, sind noch einmal fast 1000 Jahre älter als die Worte der Urkunde, in der Wingershausen erstmals erwähnt wird. Die Worte der Urkunde besagen, dass der Mainzer Erzbischof Erkanbald 1016 hier in Wingershausen eine Kirche weihen ließ. Natürlich haben hier vorher auch schon Menschen gelebt. Es ist klar: Wir feiern eine 1000jährige Geschichte, weil die Urkunde verlässlich einen Zeitpunkt markiert. Genau betrachtet feiern wir eine 1000jährige Kirchengeschichte an diesem Ort. Und damit auch den Bezug zu jenen viel älteren Worten aus dem Epheserbrief und zu jener Geschichte des Jesus von Nazareth. Diese Geschichte ist wiederum gegründet in der Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel. Auch das wurde in diesem Gottesdienst bereits deutlich. Wir haben zu Beginn einen Psalm gebetet. Und vorhin wurde das Weihegebet des Königs Salomo für den Tempel in Jerusalem gelesen. Wir sprechen heute von der jüdisch-christlichen Tradition, die unsere Kultur und unsere Geschichte geprägt hat.

 

 

In der Festpredigt zum heutigen Tag möchte ich uns mit ein paar Schlaglichtern daran erinnern. Und zugleich auch etwas dazu sagen, was diese Prägung für uns heute bedeuten kann.

 

 

 

Wir können uns heute vermutlich nur sehr begrenzt vorstellen, was die Botschaft von Jesus Christus für Menschen in der Antike bedeutet hat. Solche Worte wie die des Epheserbriefes bezeugen, dass diese Botschaft das Leben von Menschen grundlegend verändert hat. Die Botschaft, das ist das, was Jesus gepredigt und gelehrt hat: Seine Worte von der Gottes- und der Nächstenliebe, die bis hin reicht zu der Aufforderung, auch Feinde zu lieben. Seine Worte davon, dass es nicht egal ist, wie es den Menschen neben uns geht. Sein Rat, sich doch immer zu fragen: Was würde ich wollen, was man mir tut, wenn ich in Not bin. Und daran sein Handeln auszurichten. Seine Predigt von der Nähe und Liebe Gottes, die allen, wirklich allen Menschen gilt. Zu der Botschaft gehört auch seine Lebens- und Leidensgeschichte, in der er Gewalt nicht mit Gewalt beantwortet hat. Dazu gehört sein unschuldiger Tod am Kreuz. Und vor allem die großartige Botschaft: Gewalt und Tod waren nicht das Letzte. Jesus ist Christus ist vom Tod auferstanden. Er lebt und ist im Himmel zur Rechten Gottes. Das heißt: Der auferstandene, himmlische Christus ist an der Seite der Menschen, die auf ihn und seinen Namen getauft sind und die an ihn glauben. So gibt er Menschen immer wieder neue Kraft inmitten der Wirren und der Sünden: Hoffnung und Trost für das eigene Leben. Und den Impuls, nach den guten Werken zu fragen und diese auch zu tun.

 

 

 

Die Menschen in der Antike haben diese Botschaft als etwas gehört, was ihr Leben neu orientiert.

 

 

 

Es haben sich christliche Gemeinden gebildet, die anders waren als alle Gemeinschaften in ihrer Umwelt. Da fielen die sozialen Schranken weg. Es kamen Menschen aus allen Schichten zusammen. Die Frauen gewannen in diesen Gemeinschaften eine andere Stellung – manche waren sogar Leiterinnen der Gemeinde. Die Menschen fingen an sich gegenseitig zu unterstützen und auch die Notleidenden. Sie nahmen es nicht hin, dass manche Menschen weniger wert sein sollten als andere. Sie haben gesehen, dass das Leben ein großes Geschenk ist. Manche Gemeinden haben sich deshalb auch für wirkliche Gewaltfreiheit eingesetzt.

 

 

 

Es gibt Forscher, die sagen: Wenn das Christentum nicht so eine überzeugende, andere Botschaft vom Wert jedes einzelnen Menschen gehabt hätte, dann hätte es die Antike nicht überstanden.

 

 

 

Das Christentum hat die Antike überstanden. Es hat die Kultur des Westens sehr geprägt. Nicht als eine ungebrochene Erfolgsgeschichte. Sondern auch mit vielen Verirrungen. Die Missionsgeschichte, die das Christentum auch hier in unsere Gegend gebracht hat, war nicht gewaltfrei. Der Dreißigjährige Krieg, der auch ein Krieg christlicher Konfessionen war, ist ganz entsetzliches geschehen. Denken Sie nur an die Hexenverbrennungen – hier ganz in der Nähe in Büdingen. Und die schlimmste Verirrung ist entstanden, als Christen ihre jüdischen Wurzeln vergaßen und verleugneten und jüdische Schwestern und Brüder auf barbarischste Weise verfolgt und ermordet wurden.

 

 

 

Daneben hat der christliche Glaube immer wieder seine positive Kraft entfalten können. Im kommenden Jahr feiern wir 500 Jahre Reformation. Martin Luther hat für zunächst ganz für sich die befreiende und errettende Kraft des Evangeliums entdeckt. Seine Einsicht, die ihn und die Kirchengeschichte veränderte, war: Gott ist nicht ein Gott, der mich klein macht. Gott macht mich stark – durch seine Liebe, dadurch, dass er mir Christus an die Seite stellt. Gott macht mich frei und will, dass der Alltag mein Gottesdienst wird. Das hat Menschen viel Kraft gegeben. Es hat viel auf den Weg gebracht: Den Gedanken, dass alle Menschen Bildung brauchen, um nicht in Abhängigkeit zu bleiben, sondern um selbst urteilen zu können. Ab 1530 wurde auch hier in Wingershausen evangelisch gepredigt. Der erste evangelische Pfarrer war ein Herr Martinus. Die Predigt des Evangeliums hat Menschen geholfen – gewiss auch in den schweren Zeiten des schon genannten Dreißigjährigen Krieges. Die Lieder Paul Gerhardts sind bis heute bewegende Zeugnisse davon, wie Menschen sich daran festgehalten haben, dass Gott ein Gott des Lebens ist. Und wie viele Situationen mag es gegeben haben, in denen Menschen auch hier – trotz schwieriger und schwerster Erfahrungen im persönlichen Leben, aber auch in den Kriegs- und Naturkatastrophen, von denen das Dorf nicht verschont blieb – etwa das große Unwetter am Pfingstsamstag 1826 – sich an Liedern Paul Gerhardts festgehalten haben: „O treuer Hüter, Brunnen alle Güter, ach lass doch ferner über unser Leben bei Tag und Nacht dein Huld und Güte schweben. Lobet den Herren!“ Oder: „Treib unseren Willen, dein Wort zu erfüllen, hilf uns gehorsam wirken deine Werke, und wo wir schwach sind, da gib du uns Stärke. Lobet den Herren!“ Es gab hier am Ort immer wieder Menschen, die das Evangelium verkündigt und gelebt haben. Und einen besonderen Platz hat Wingershausen auch in der Geschichte unserer Kirche in Hessen und Nassau gefunden. Mit Ilse Hedderich, mit der mich persönlich der Geburtsort Schlitz verbindet, hat über viele Jahre eine der ersten Pfarrerinnen der EKHN, hier in der Gemeinde gewirkt. Die Ordination war damals so etwas Besonderes, dass das Hessische Fernsehen sie live übertragen wollte. Gerade wenn wir uns die befreiende Kraft des Evangeliums verdeutlichen, die in den Anfängen die Christenheit sehr geprägt hat, ist es schon verwunderlich, wie lange es gedauert hat, bis Frauen im Pfarramt akzeptiert waren. Heute sind wir dafür sehr dankbar.

 

 

 

Liebe Gemeinde, 1000 Jahre Ortsgeschichte, 1000 Jahre Christentumsgeschichte in Wingershausen. Und wenn wir genau hinschauen, merken wir, wie sehr es immer wieder hin- und hergeht zwischen göttlicher, himmlischer Kraft die Menschen erreicht hat und Orientierung geschenkt hat. Und auch menschlicher Verirrung. Gott hat uns eben nicht zu Marionetten gemacht, sondern in die Verantwortung genommen, mitzuwirken und mitzugestalten – mit all unseren Fehlern und Verführbarkeiten. Mit Dank können wir zurückschauen, dass Gott nicht aufgehört hat, seine Geschichte weiterzuschreiben. Dass wir heute hier sind und Gottesdienst miteinander feiern in einem freien Land, dafür danke ich Gott von Herzen. Und ich stimme gerne ein in die Worte des Epheserbriefes: Gottes Gabe ist es.

 

 

 

Zugleich trägt die Gabe auch die Aufforderung und die Frage in sich: Was heißt es heute in unserer Zeit, die Kraft des Evangeliums zur Sprache zu bringen?

 

 

 

Wir leben zweifellos in einer schwierigen Zeit. Wir leben in einer Welt, die sehr in Unruhe geraten ist. Und viel mehr als die Generationen vor uns, beschäftigt uns, was in dieser Welt geschieht. Wir sind global miteinander vernetzt. Und was irgendwo in dieser Welt geschieht, kann auch immer Auswirkungen auf uns haben – auch in einem Dorf im Vogelsberg.

 

 

 

Früher sind Menschen aus diesem Dorf ausgewandert, weil sie Armut und Not entfliehen wollten und ein besseres Leben anderswo suchten und oft auch fanden. Heute kommen Menschen zu uns, weil sie Kriegen und auch der Not in ihren Ländern entfliehen. Das gehört zu unserer Zeit und wir müssen uns auch weiterhin auf weltweite Wanderungsbewegungen einstellen. Manche meinen, davor müssten wir uns schützen. Zurzeit werden auch wieder viele Ängste geschürt. Keine Frage: es ist nicht leicht, Menschen aufzunehmen und zu integrieren. Aus dem Kern der christlichen Botschaft heraus sind für mich aber zwei Dinge unaufgebbar: Wer sich an der Botschaft Christi orientiert, kann seinen Blick vor der Not anderer Menschen nicht verschließen. Und: Wer sich an der Botschaft Christi orientiert, kann sich nicht einfach über andere Menschen stellen und sich selbst und sein Leben für wertvoller erklären als das Leben anderer Menschen. Das Evangelium des heutigen Tages vom Pharisäer und Zöllner verdeutlicht das eindrücklich.

 

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Damit ist nicht gesagt, „wir könnten und müssten die ganze Welt retten“ – wie immer wieder von Kritikern unterstellt wird. Damit ist auch nicht gesagt, dass es nicht darum geht, verantwortungsvoll Aufnahme von Flüchtlingen und Zuwanderung zu gestalten. Aber es ist eine klare Absage an menschenverachtenden Rassismus und Diskriminierung von Menschen, die zum Beispiel einen anderen Glauben haben.

 

 

 

Was es wiederzuentdecken gilt, ist die Kraft unseres Glaubens. Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. Mögen uns darum die Worte des Epheserbriefes ermutigen: Denn wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, dass wir darin wandeln sollen.

 

Und so bewahre der Frieden Gottes, der höher ist als alle Vernunft, unsere Herzen und Sinnen in Jesus Christus. Amen