31.12.2018/1.01.2019
Von Gert Holle
Silvester ist für mich seit vielen Jahren ein Tag mit einer ganz eigentümlichen Stimmung. Ein Tag des Übergangs: das eine Jahr geht zu Ende, ein neues Jahr bricht an. Ein Tag des Nachdenkens: über das, was war, und über das, was kommen wird. Wehmut und freudige Erwartungen, aufgefrischte Hoffnungen auf etwas Besseres. Gehen und Kommen als Endlosschleife. Bilder und Gedanken – mehr als Sandkörner auf der Erde. Dankbar für das Gute, das mir widerfahren ist. Traurig über die Verluste, die zu erleiden waren. Geweint, getrauert, schwach gefühlt. Wieder aufgestanden, Zuversicht geschöpft, Blick nach vorne ausgerichtet. Der Terminkalender gut gefüllt, das letzte Kapitel des persönlichen Jahresbuches nahezu abgeschlossen. Mein Leben bewegt sich. Zeit der Veränderung. Neue Chancen, die das Leben bietet. Möglichkeiten, etwas zu tun, was mir wichtig ist, was mir gut tut.
Silvester – ein Tag der Neuausrichtung. Und damit meine ich nicht die üblichen Vorsätze, die nach ein paar Wochen eh nicht zu halten sind. Nein, Neuausrichtung auf das, was ich in meinem Leben als sinnvoll erfahren könnte. Was mich zufrieden macht. Es ist wichtig, sich Zeit zu nehmen, um die eigenen Handlungen und Gedanken auf ihre Stimmigkeit hin zu betrachten. Nachdenken über das, was sein soll. Von Anderen übernommene Ansichten und Haltungen überprüfen und eigene entwickeln, auch wenn es mühsam ist. Von der Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung kommen. Sich der eigenen Vernunft bedienen und nicht Andere für sich denken lassen. „Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen“, mahnte schon Immanuel Kant vor über 230 Jahren. „Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann.“ Doch dann lasse ich es letztlich auch zu, dass andere Entscheidungen über mich treffen. Wir verbringen zwar viel Zeit damit, uns auf Vergleichsportalen zu bewegen, um die angesagtesten Schuhe kaufen, den günstigsten Urlaub auswählen oder das hippste Smartphone wählen zu können. Doch haben wir uns für eine Welt entschieden, in der irgendwann mehr Plastik als Fische in den Meeren schwimmt? Oder für eine Welt, in der Kinder, statt zur Schule zu gehen, billige Kleidung für uns nähen, damit wir unser Geld wieder für den Download der neuesten Hits aus den Streaming-Diensten einsetzen können? - Ich jedenfalls habe das nicht getan. Und trotzdem geschieht es.
Silvester - ein Tag, an dem ich rufen möchte: „Mensch, wach auf! Gesellschaft, wach auf! Bedient euch eurer eigenen Vernunft! Lasst euch nicht lenken wie eine Herde Schafe durch den Hütehund! Setzt eure Urteilskraft ein!“ - Doch ich weiß: Ich kann so viel rufen, wie ich will, es wird aller Erfahrung nach nicht viel bringen. In den vergangenen Jahren habe ich an dieser Stelle wiederholt versucht, über die neue Jahreslosung zu sinnieren und in diesem Zusammenhang den einen oder anderen Ratschlag gegeben. Ich habe mir das diesmal verkniffen, denn Sie werden sich Ihre eigenen Gedanken dazu machen können: „Suche Frieden und jage ihm nach!“ (Psalm 34,15). Sollten Sie sich tatsächlich die Zeit nehmen und über diese Worte nachdenken und vielleicht auch noch die Bibel aufschlagen und schauen, was vor und nach diesen Worten steht, werden Sie entdecken, wie viel Spaß das machen kann und wie viele Erkenntnisse dabei zu gewinnen sind.
Silvester – etwas geht zu Ende, etwas fängt neu an. Ein Übergang, der seine Rituale hat. Ein Gläschen Sekt, Bleigießen, Feuerwerk. „Same procedure as every year, James! – Dinner for one“. Heute möchte ich in meinen Strauß der Rituale ein Lied aufnehmen, das die Rockband Moody Blues vor 50 Jahren sang: „Denken ist der beste Weg zu reisen – Thinking is the best way to travel“. Mit den ins Deutsche übertragenen Worten der ersten Strophe wünsche ich Ihnen ein gesegnetes Jahr 2019: „Du kannst so hoch wie ein Drachen fliegen, wenn du magst; schneller als Licht, wenn du magst; durch das Universum sausen. Denken ist der beste Weg zu reisen!"
Gert Holle, Theologe und Referent für Öffentlichkeitsarbeit im evangelischen Dekanat Büdinger Land.