GEDANKEN ZUM 1. MAI 2020 / TAG DER ARBEIT

Solidarität erleben

Foto: Gert Holle
Foto: Gert Holle

Von Gert Holle

 

Erste Tage eines vorsichtigen Aufatmens, kleine Schritte in so etwas wie eine „neue Normalität“ liegen hinter uns. Doch was ist in diesen Wochen schon normal? Maske auf und Abstand halten. Diese Vorkehrungen erlauben es uns, wieder shoppen zu gehen – zumindest in kleine Läden. Vieles kommt uns surreal, ja geradezu gespenstisch vor. Im Kampf mit und gegen Corona gerät Vieles ins Wanken. Verschobene Lebensträume. Angst um die eigene Existenz, um die Familie. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf unser gesamtes Leben sind fatal. Unabdingbar erscheint, dass sich nach Corona etwas verändert. Das spüren wir. Kann unser Leben nicht auch auf kleinerer Flamme funktionieren? Es stellen sich Fragen nach gerechtem Wirtschaften, aber auch nach der Zukunft des zivilen Miteinanders. Wann können wir wieder in gewohnter Weise unseren Hobbys nachgehen? Unsere Lieben besuchen? Uns mit Freunden treffen? In Gottesdienste gehen? Unbeschwert durch die Natur streifen? - Ich merke, wie wir bescheiden werden, uns Gedanken machen, wie es wohl weitergehen kann. Doch planen fällt schwer. - In dieser Woche begehen wir den „Tag der Arbeit“. Von „Feiertag“ kann nicht die Rede sein. Zu groß sind die Sorgen und Einschränkungen. Die Gewerkschaften haben ihre Veranstaltungen zum 1. Mai abgesagt. An Feiern in Gemeinschaft ist nicht zu denken. Das Leben von Hunderttausenden Menschen steht auf dem Spiel. Unglaublich viele Arbeitsplätze und Einkommen sind gefährdet. Zurzeit haben der Gesundheitsschutz und die Gesundheitsvorsorge Vorrang vor vielen anderen Überlegungen. Dies besagt aber nicht, dass die Ziele der gerechten Entlohnung und der sozialen Sicherheit aus dem Blick geraten. Corona führt uns drastisch vor Augen: Wo die Arbeitsperspektiven nicht vorhanden sind, wo die geleistete Arbeit noch nicht gerecht bezahlt wird, kann das Leben sich nicht entfalten. Unsichere Arbeitsplätze gefährden unmittelbar die Struktur unserer Gesellschaft. Gerade in einer arbeitsteiligen Gesellschaft wie der unsrigen, die vor allem der entlohnten Erwerbsarbeit nach wie vor höchste Priorität beimisst und die unser aller Leben weitgehend bestimmt, darf das kritische Nachdenken über die „Arbeit“ nicht aufhören. Der „Tag der Arbeit“ mag an Schubkraft verloren haben, aber keineswegs an Bedeutung. Es geht um den Respekt gegenüber der Arbeitsleistung und um die Würdigung der Arbeitnehmer, die einerseits Arbeit brauchen, andererseits mit ihrer Leistung den Kitt für unsere Gesellschaft liefern. Gerechtigkeit ist in diesem Zusammenhang ein großes Wort, das auch innerhalb der Kirche immer wieder zu Diskussionen anregt. In den Berufen der sozialen Arbeit ist die Unzufriedenheit sehr groß: wenig Personal, schlechte Bezahlung und wenig Anerkennung. Aber der Gedanke der Gerechtigkeit steht nicht allein. Gerechtigkeit ist immer auch solidarisch, grenzt niemanden aus. Solidarität meint Zusammenhalt und Selbstbestimmung.

 

Am 1. Mai 1890 wurde in Deutschland und in vielen Ländern Europas der erste „Tag der Arbeit“ begangen. Ein Jahr zuvor hatte der internationale Arbeiterkongress in Paris anlässlich des 100. Jahrestages des Sturms auf die Bastille zu einem „Weltfeiertag der Arbeit“ aufgerufen und an die Ideale „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ erinnert. Auslöser für den neu eingeführten „Kampftag der Arbeiterbewegung“ waren indes der Ruf der Arbeiterschaft nach einem „Acht-Stunden-Tag“ in Massendemonstrationen in Australien am 1. Mai 1856 und dann, im Gedenken daran, die Ereignisse in Chicago in den ersten Maitagen 1896, in deren Verlauf ein Bombenanschlag und ein anschließendes Gefecht mit der Polizei zahlreiche Menschenleben forderte. Die Bezeichnung „Kampftag der Arbeiterbewegung“ passte in den Zeitgeist. Heute ist sie viel zu martialisch, um von allen Kreisen der Gesellschaft akzeptiert zu werden. Seit Jahren erleben die Kundgebungen der Gewerkschaften tendenziell rückläufige Besucherzahlen. Dafür haben sich Frühlingsfeste, Saisoneröffnungen und Grillpartys am 1. Mai potenziert. Für die gnadenlos ausgebeutete Arbeiterschaft waren „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ Ziele gewerkschaftlicher und politischer Anstrengung. Ein gemeinsamer Tag zur Vertretung der eigenen Meinung, zum Erleben von Solidarität, zur Stärkung des eigenen Selbstbewusstseins gegenüber den Mächtigen und Herrschenden, das einte sie. Auch wenn diese Zusammenhänge vielleicht in Vergessenheit geraten sein mögen: Solidarität ist nach wie vor ein Thema. Menschen engagieren sich in der Hilfe für Geflüchtete. Das Thema Altersarmut hat die Politik erreicht. Und gerade in diesen Tagen ist Gemeinschaftssinn spürbar: Einkaufshilfen für Menschen, die ihr Haus nicht verlassen können; Maskenherstellung für Andere; Zuspruch am Telefon; viele kleine Gesten. - In der Bibel wird Arbeit als Notwendigkeit zum Lebensunterhalt bezeichnet. Arbeit gehört zur positiven Bestimmung des Menschen, da er seine Menschlichkeit durch sie entfaltet und am schöpferischen Tun Gottes teilhat. Heute bemisst sich der Wert des Menschen weitgehend am materiellen Ertrag seiner Arbeit. Arbeit ist Fluch und Segen zugleich. Es kommt nur darauf an, was wir daraus machen. Arbeit wird uns auch in Zukunft nicht ausgehen, wohl aber werden sich ihre Qualität und ihre Anforderungen grundlegend verändern. Bislang vernachlässigt die einseitige Fokussierung auf Gewinnmaximierung die Würde des Menschen. Ein Ausgleich und Zusammenhalt von „Starken“ und „Schwachen“ kann nur in neuen Formen der Arbeit gefunden werden. Und es muss gelten: über dem Wert des Gewinns steht die Würde des Menschen. Unsere Aufgabe wird es sein, aktiv zu klären, welche Zukunft von Arbeit wir wollen. – Ich wünsche Ihnen einen gesegneten „Tag der Arbeit".

 

Gert Holle, Theologe und Öffentlichkeitsbeauftragter im Evangelischen Dekanat Büdinger Land.