4.05.2018
Von Gert Holle
Natürlich können wir darüber philosophieren, ob es für Geschäftsleute Sinn macht, auch am Sonntag Waren zum Verkauf anzubieten. Wir werden Argumente finden, die dafür sprechen, aber auch auf etliche stoßen, die die Sonntagsruhe schützen wollen. Aus Sicht der Kirchen werden wir auf die Bibel verweisen, uns über die Würde des Menschen Gedanken machen, vor der Vermarktung und Ökonomisierung unserer Lebenswelt warnen, auf die grundlegende Bedeutung des Sonntags für das Gemeinwohl aufmerksam machen. Das Gewerbe verweist auf sterbende Innenstädte, auf veränderte Arbeits- und Lebensgewohnheiten, auf die Konkurrenz im Internet. Hilft da ein weiterer verkaufsoffener Sonntag tatsächlich? –
Auch der Gesetzgeber hat sich dazu seine Gedanken gemacht und einst Verantwortung übernommen, in dem der Sonntagsschutz in Hessen auf ein verfassungsgemäß hohes Niveau gesetzt wurde. Soll im Zuge einer Diskussion um die Aufweichung dieses Schutzes jetzt die Verantwortung an Gewerkschaften, Unternehmen, Kirchen und andere Verbände delegiert werden? Und soll damit das bislang gute Miteinander dieser gesellschaftlichen Organisationen und Gruppen gefährdet werden, weil ihnen nun die Verantwortung für Entscheidungen scheinbar überlassen wird, die nicht in ihre Zuständigkeiten fallen?
Für keinen der Beteiligten ist es einfach. Für die Kirchen steht im Vordergrund, Zeit zur Verfügung zu haben für Aktivitäten mit Familie und Freunden, für die Entspannung von Körper und Geist, für religiöse Besinnung. Für andere scheint der Kampf um den Sonntag längst entschieden: Die 24-Stunden / 7-Tage-Gesellschaft ist Realität. Vielen ist das Einkaufen überhaupt nur noch spät abends oder an den Wochenenden möglich. Die Marktwirtschaft hat offensichtlich längst geantwortet: Gäbe es kein gesellschaftliches Bedürfnis, auch an Sonntagen einkaufen zu gehen, die geöffneten Läden würden leer bleiben. Doch dem ist nicht so. Und damit sind wir beim eigentlichen Problem.
Mir erscheint es wichtiger, über den Wandel unserer Arbeitsmarktstrukturen insgesamt zu sprechen, als über das „Detail Sonntagsschutz“. Vor sieben Jahren habe ich in einem Beitrag zum 1. Mai, der damals auf einen Sonntag fiel, gefordert, dass wir bewusster darüber nachdenken müssen, wie sich politische und ökonomische Macht zueinander verhalten. „Die Vermarktung und Ökonomisierung unserer Lebenswelt schreitet unaufhörlich voran: Längere Ladenöffnungszeiten, Teilzeitarbeit, Mini- und Midijobs, Altersteilzeit, Arbeiten am Bildschirm. Die Normalarbeitszeitverhältnisse gehen zurück. Wir können es als Warnsignal nehmen, dass wir mitten in unserem anwachsenden Reichtum so arm dran sind, dass wir sogar kulturelle Werte unserer Feiertagskultur für das „Immer-mehr-haben-wollen“ opfern. Doch das Problem ist in Wahrheit nicht der gefährdete Sonntag, sondern das fehlende Bemühen um den Schutz unserer Lebens- und der Arbeitsbedingungen insgesamt.“ –
Als Gesellschaft stehen wir vor der Frage, ob wir noch den politischen Willen aufbringen, das unüberbotene, freiheitlich-demokratische Ideal einer Bürgergesellschaft und ihre Voraussetzung der Chancengleichheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität unter veränderten Umständen neu zu überdenken und Reformen zu ihrer Erneuerung anzupacken, oder ob wir das Ganze unreflektiert der Dominanz des Marktes überlassen. Bislang vernachlässigt die einseitige Fokussierung auf Gewinnmaximierung die Würde des Menschen. Ein Ausgleich und Zusammenhalt von „Starken“ und „Schwachen“ kann nur in neuen Formen der Arbeit gefunden werden. Und es muss gelten: über der Würde des Gewinns steht die Würde des Menschen. Aufgabe ist es, aktiv zu klären, welche Zukunft von Arbeit wir wollen. Daran wollen wir auch als Evangelisches Dekanat Büdinger Land mitarbeiten. Es reicht bei weitem nicht, den Sonntagsschutz politisch einzufordern. Die Sonntagskultur muss auch gepflegt werden, der Sonntag in den Gemeinden, in der Familie und im Freundeskreis muss mit neuem Leben erfüllt werden.