Lesen Sie bitte im Folgenden Informationen zum Konzentrationslager Auschwitz und die Ansprache "75 Jahre danach - und morgen?" - beide Texte von Pfarrer Martin Schindel, gelesen im Gottesdienst. Das Gottesdienstblatt und die Texte des Gottesdienstes finden Sie unten zum Download.
Dem ehemaligen hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer verdanken wir es, dass es ab Dezember 1963 zum ersten Auschwitz-Prozess in Frankfurt kam. Im Laufe des etwa eineinhalbjährigen Verfahrens entstanden viele Meter Akten – Verhörprotokolle, Vorträge von Staatsanwälten und Verteidigern, und noch vieles mehr. Eher zufällig wurden sogar viele Stunden Tonband-Mitschnitte von Verhören aufgehoben – sie sind heute sehr einfach online zu hören, die Akten einzusehen.
Mit diesen Prozessakten begann – 18 Jahre nach dem Ende der Shoah – ein bis heute andauernder Prozess, dass Erfahrungen, Zeugenaussagen, Dienstpläne und vieles mehr aus Auschwitz schriftlich niedergelegt und veröffentlicht werden, auf deutsch, hebräisch, jiddisch, polnisch und in vielen anderen Sprachen.
Das ist mir darum so wichtig, weil der bloße Augenschein der Lagergelände in Auschwitz eher unspektakulär ist. Vor knapp sieben Jahren war ich einige Tage dort, beschäftigt habe ich mich mit dem Lager aber schon viel länger.
Zunächst muss man wissen: Auschwitz ist nicht ein Lager, sondern besteht aus drei – räumlich getrennten – Hauptlagern (und später zahlreichen Außenlagern).
Das Stammlager liegt mitten in der Kleinstadt Auschwitz – Oświęcim heisst sie heute auf Polnisch. Ihren deutschen Namen hat sie aus der Zeit, als sie zu Österreich-Ungarn gehörte, also bis 1918. Sie erinnern sich – der Staat Polen entstand erst nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wieder.
Das Stammlager wurde in einer ehemaligen österreichischen Militärkaserne eingerichtet, und zwar schon drei Wochen nach dem deutschen Überfall auf Polen 1939. Zunächst waren fast ausschließlich Polen Häftlinge – die Nazis nahmen alle fest, von denen sie dachten, von ihnen könnten Aufstandsbewegungen ausgehen. Viele Priester, auch viele leitende Angestellte oder höhere Beamte waren darunter und natürlich alle, die in polnischen Parteien eine leitende Funktion ausgeübt hatten – eben alle, von denen man dachte, sie könnten etwas organisieren.
Die Häftlinge dieses Stammlagers mussten bald außerhalb der Stadt das zweite, wesentlich größere Lager bauen: Auschwitz-Birkenau, vielleicht fünf Kilometer vom Stadtzentrum entfernt.
Und ein drittes Hauptlager – Monowitz – entstand, ebenfalls durch Häftlingsarbeit, etwa sechs Kilometer in anderer Himmelsrichtung vom Stadtzentrum gelegen. Es wurde unmittelbar angrenzend an das Gelände der Buna-Werke der I.G. Farben errichtet – dort mussten die Häftlinge unter schlechtesten Bedingungen arbeiten.
Im Stammlager kann man viele gewesene Kasernenräume sehen – die meisten leer. Fast alles eher schlichte, unscheinbare Bauten. Am Eingang zum Stammlager übrigens befanden und befinden sich die so berühmt gewordenen Worte Arbeit macht frei.
Auf dem Gelände von Birkenau sind zahlreiche Baracken zu sehen, zum Teil noch mit einer spartanischen Inneneinrichtung; berühmt ist die Ansicht vom Torbau, der in Wirklichkeit gar nicht so gross ist, wie er auf Fotos manchmal scheint. Eisenbahn-Schienen sind zu sehen, die zu einem improvisierten Bahnsteig führen. Im hinteren Teil des Geländes, zum Wald hin, sind Trümmer mehrerer Gebäude zu finden – vorne auf das Gottesdienstblatt habe ich Ihnen eine Fotografie eines solchen Schutt-Berges abgedruckt.
Dieser Schutt war bis zum Morgen des 26.01.1945 ein Teil des Krematoriums II – erst in der Vorbereitung auf den heutigen Gottesdienst habe ich wieder gelesen, dass dieses Gebäude tatsächlich bis zum letzten Tag arbeitete und rauchte: Denn hier wurden die Leichen all‘ derer verbrannt, die in den Gaskammern oder in den Baracken ums Leben gebracht worden waren.
Die genaue Zahl der Opfer wird niemals zu ermitteln sein – die Forschung geht heute davon aus, dass es wenigstens 1,1 Millionen Menschen waren, die in Auschwitz ermordet wurden, die allermeisten Juden aus (fast) allen europäischen Ländern.
Die meisten von ihnen sahen niemals eine der Wohnbaracken von innen – direkt nach dem Aussteigen aus den Viehwaggons wurden auf dem Bahnsteig, Rampe genannt, die meisten selektiert und im Gas ermordet. Nur Arbeitsfähige bekamen die Häftlings-Nummer auf den Arm tätowiert, und mussten dann unter unmenschlichen Bedingungen z.B. in Monowitz arbeiten.
Es gab zwar seit 1943 schriftliche, auch gedruckte, Berichte über die Vorgänge in Auschwitz; aber ihnen wurde in London und Washington und Moskau nicht wirklich geglaubt. Zu monströs waren die Behauptungen der Autoren – eine industrielle Vernichtung von Menschen: So etwas könne es doch nicht wirklich geben, dachte man.
Und natürlich waren diese frühen Berichte nicht im wissenschaftlichen Sinne exakt; manches ging auf Mundpropaganda zurück, anderes auf Schlussfolgerungen oder Indizien. Das Morden in Auschwitz ging tatsächlich weiter bis zum 27.01.1945.
Es waren russische Soldaten, die zuerst am Vormittag das Lager Monowitz, dann am frühen Nachmittag etwa zeitgleich das Stammlager und Birkenau erreichten und befreiten. In den Lagern befanden sich noch etwa 7½ tausend Häftlinge; viele zu schwach und krank, um auch nur aufstehen zu können. Hunderte von ihnen starben in den Wochen nach der Befreiung.
Etwa 60.000 andere Gefangene waren in den zehn Tagen, bevor die Rote Armee Auschwitz erreichte, von den SS-Aufsehern auf so genannte Todesmärsche gezwungen worden: Sie sollten nicht den Russen in die Hände fallen, damit sie nicht erzählen können, was in Auschwitz geschehen war; darum wurden sie mit roher Gewalt dazu gezwungen, gen Westen zu marschieren, durch den Winter, um in anderen Konzentrationslagern weiter gequält zu werden. Viele überlebten diese Märsche nicht – sie sehen im Gottesdienst-Blatt eine Zeichnung eines, der überlebt hat.
Hätte Fritz Bauer nicht – gegen massive Widerstände im Rechtssystem selbst, aus der Politik und aus der Wirtschaft – die Hartnäckigkeit gehabt, die Durchführung der Frankfurter Prozesse zu erzwingen: Vieles von dem, was wir heute wissen, durch Zeugenaussagen und anderes mehr, wäre niemals bekannt geworden.
Man sollte nicht vergessen, dass im Dezember 1963 viele der insgesamt etwa 8.000 SS-Männer, die in der Bewachung des Lagers eingesetzt waren, nicht nur noch lebten, sondern häufig in Politik, Verwaltung, Wirtschaft und so weiter nicht ganz unbedeutende Stellungen innehatten.
Eine schlichte Metallplatte unweit der gesprengten Krematorien mahnt heute alle, die die Gedenkstätte besuchen:
Dieser Ort sei allezeit ein Aufschrei der Verzweiflung und
Mahnung an die Menschheit.
Hier ermordeten die Nazis über anderthalb Millionen Männer, Frauen und Kinder.
Die meisten waren Juden
aus verschiedenen Ländern Europas.
Für israelische Schülerinnen und Schüler ist ein Besuch in der Gedenkstätte Auschwitz Pflicht. Auch darum ist Auschwitz heute wohl die am häufigsten besuchte Gedenkstätte der Welt – über eine Million Menschen, so wurde uns dort berichtet, reisen jedes Jahr in den Süden von Polen, um sich mit dem Grauen auseinanderzusetzen.
Aber, wie gesagt – wirklich viel zu sehen ist dort nicht; die Zeitzeugen, die vielen Besucherinnen und Besuchern aus eigenem Erleben berichten können, sterben nach und nach. Ich war schon in vielen Gedenkstätten, oft auch mit Jugendlichen – Schülerinnen oder Konfis; und ich finde es prinzipiell wichtig, dass diese Art der Pädagogik verstärkt wird. Ein gutes Beispiel ist die Schule in Konradsdorf, die die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem System der Konzentrationslager immer wieder fördert und zum Pflichtprogramm macht.
Aber ich habe schon am 09.11.19 gesagt, dass ich fürchte, dass das nicht ausreicht: Wir erleben seit einigen Jahren, wie Unsagbares wieder sagbar gemacht werden soll; wir erleben seit einigen Jahren, dass Juden in Deutschland attackiert werden und sich ihres Lebens nicht sicher sein können, zuletzt in Halle.
Wir erleben seit einigen Jahren, dass der mühsam aufgebaute Konsens Nie wieder! gesellschaftlich zu bröckeln begonnen. hat
Ich freue mich darüber, dass unser Bundespräsident bei seiner Rede in Yad Vashem am vergangenen Freitag ganz explizit betont hat, dass Deutschland „sich selbst nur dann gerecht (wird), wenn es seiner historischen Verantwortung gerecht wird: Wir bekämpfen den Antisemitismus! Wir trotzen dem Gift des Nationalismus! Wir schützen jüdisches Leben! Wir stehen an der Seite Israels!“ (FR, 24.01.20, S. 1)
Kaum waren die Worte Steinmeiers in Yad Vashem veröffentlicht, war und ist bis jetzt auf diversen rechten Seiten im Internet scharfe Kritik zu lesen: Es gebe keine historische Schuld; es muss endlich ein Schlussstrich unter den Vogelschiss der deutschen Geschichte gezogen werden und so weiter.
Wenn wir es nicht sehr schnell und sehr effizient schaffen, solchen Gedanken das Publikum und die Gefolgschaft abspenstig zu machen, werden wir ein stetig zunehmendes, weiter wucherndes Problem haben in unserer Gesellschaft.
Es ist nicht genug, dass der Bundespräsident richtige Worte formuliert – sie müssen im Alltag von ganz normalen Menschen offensiv vertreten werden; von mir, von Dir.
Es ist nicht genug, dass wir im Zusammenhang mit wichtigen Daten der deutschen Katastrophe das Gift der Unmenschlichkeit laut benennen und anprangern – wir müssen es jeden Tag bekämpfen, ihm aktiv entgegentreten.
Glücklicher Weise haben wir dazu heute ganz andere Möglichkeiten als noch die Generation vor uns: Wir können uns sehr schnell und sehr umfassend informieren; wir können Bibliotheken nutzen und Fernsehprogramme, und bei uns gibt es keine Zensur der Informationen über den Nationalsozialismus.
Wir können zum Beispiel Leserbriefe schreiben, die so genannten Sozialen Medien nutzen, um auf Probleme, auf Entgleisungen, auf Grenzen der Menschlichkeit hinzuweisen. - Und natürlich können wir noch viel mehr tun – das überlasse ich getrost Ihrer Phantasie.
Eine Option haben wir – als Kirche, als Gemeinde – jedoch nicht: Nichts tun, und darauf hoffen, dass andere schon an unserer Stelle aktiv werden. Denn dass der Ungeist auch in unserer Region immer wieder laut wird – das wissen wir alle.
Erst in den letzten zehn, zwanzig Jahren sind zunehmend regionale Studien erschienen, die deutlich werden lassen, wie im Kleinen, im Alltäglichen, hier bei uns und in vielen anderen kleinen Orten sich Anfang der 30er Jahre die Gewöhnung an die alltägliche Gewalt etablierte; wie die Menschen ihre ehemaligen Nachbarn im Stich liessen.
Auch Arbeiten, die die unmittelbare Nachkriegszeit zum Thema haben, sind geschrieben worden – wie gelang es, dass die Deutschen nach 1945 zu Demokraten wurden?
Wieder andere Beiträge beschäftigen sich mit den Fronterfahrungen der Soldaten und der Tatsache, dass die allermeisten sie nicht wirklich verarbeiten konnten.
Die Frage der lokalen Öffentlichkeit ist in den Focus der Historiker geraten; und mit ihr die Frage danach, wer wann warum was wusste oder was nicht, und was beredt beschwiegen wurde. Ich könnte noch einige weitere Arbeitsgebiete aufzählen.
Ich fände es sehr gut, wenn wir als Kirche in der Region dazu kommen könnten, wirklich einmal genau zu untersuchen, wie sich unsere Kirchengemeinden wann verhalten haben; was sonntags gepredigt und was bei den Bestattungen der vielen Gefallenen gesagt wurde. Was die Kirchengemeinden, die KV-Mitglieder und andere am Tag der Nationalen Arbeit, dem 01.05.1933, oder am Tag der Reichspogromnacht tatsächlich taten; was im Einzelnen in unseren Dörfern und Städtchen geschah. Und ich wüsste auch gerne, wer was getan – oder nicht getan – hat.
Auf lokaler, auf regionaler Ebene ist hier noch viel zu tun – ich wünsche mir, dass wir die Tatsache, dass die letzten derer, die aus erster Hand berichten können, am Aussterben sind, zum Anlass nehmen, endlich einmal ganz genau hinzugucken und unsere eigene Geschichte zu erkunden, zu begreifen und sie öffentlich zu machen. Eine solche Studie könnte dazu beitragen, dass wir auch besser lernen, was wir heute tun – und was wir vermeiden sollten.
Schaut hin!, das ist das Motto des nächsten ökumenischen Kirchentages in Frankfurt – ich glaube, wir sollten besonders in unsere eigene Geschichte schauen, und zwar genau und selbstkritisch.
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Autor: Pfarrer Martin Schindel - 26.01.2020; zusammengestellt von Gert Holle