(BLEICHENBACH/det) - Es geht lebhaft zu im Jugendkulturbahnhof Bleichenbach. Elf Kinder zwischen fünf und 14 Jahren und ihre Eltern oder Großeltern machen dort eine Woche „Urlaub ohne Koffer“, auch Alleinerziehende sind dabei. Zum zweiten Mal wird diese Chance für eine entspannte Sommerwoche vom evangelischen Dekanat Büdinger Land angeboten.
Die Familien nehmen aus unterschiedlichen Gründen teil. Eltern und Kinder wollen mehr Zeit bei weniger Alltagsstress miteinander verbringen oder suchen in den sechs Ferienwochen Abwechslung und Gemeinschaft – oder das Familienbudget lässt keinen großen Urlaub zu. Der Jugendkulturbahnhof liegt günstig, zwei Familien kommen mit öffentlichen Verkehrsmitteln, eine Flüchtlingsfamilie aus einem Ort mit schlechter Verkehrsanbindung wird von Helfern gefahren.
An Begleiterinnen fehlt es nicht: Neben der Initiatorin des Projektes, Sozialarbeiterin Karin Kornelia Brückmann (Arbeit mit Alleinerziehenden und Familien in Konfliktsituationen) sind die beiden Gemeindepädagoginnen Ruth Weyel-Bietz und Renate Nagel-Kroll dabei. Sie sind Mitarbeiterinnen des evangelischen Dekanats Büdinger Land. Jugendliche, die als Teamer ausgebildet wurden, helfen ehrenamtlich mit.
Von Montag bis Samstag geht es morgens mit einer Begrüßungsrunde los, dann bilden sich Arbeitsgemeinschaft für Mittagessen, Tisch- und Küchendienst. Dazu nimmt die Gruppe sich Zeit, gegen 13 Uhr wird das Mittagessen serviert. An diesem Dienstag gibt es als Vorspeise spanische Arepitas, goldgelb gebratene Käseküchlein, dazu, auf einem Sternchen aus Avocadocreme, eine Cocktailtomate mit Borretschblüte als I-Tüpfelchen. Es folgen eine Polentapizza, verschieden belegt, und Apfeltörtchen zum Nachtisch. In der Gruppe räumen die Kinder selbstverständlich gemeinsam ab und helfen in der Küche – zu Hause mag es nicht immer so klappen. „Die Jungen und Mädchen bringen sich ein, erobern den Bahnhof und das Außengelände, entwickeln ungeahnte Spielideen“, beobachten die begleitenden Fachkräfte. Auf eine Entspannungsphase nach dem Essen folgt ein Kreativangebot. Im Laufe der Woche werden Piratentücher und andere Kopfbedeckungen angefertigt, Tischsets und Schürzen gebastelt, Holzbrettchen mit dem Brennstift gestaltet. Kaffeepause muss sein, je nach Wetter sind die Kinder dann mit den jungen Teamerinnen draußen auf dem Gelände oder drinnen bilden sich Spielrunden am Tisch. Die Erwachsenen haben Zeit für sich, manchmal werden Rezepte ausgetauscht, es kann auch um ernsthafte Probleme gehen. Mit dem abendlichen Blitzlicht, der Rückschau auf die vergangenen Stunden, endet jeder Tag. Beim großen Abschlussfest am Samstagnachmittag bringt jede Familie einen Salat mit und darf Gäste einladen. Es wird gesungen und gespielt.
Gefördert wird das Projekt bereits im zweiten Jahr mit Mitteln des Projektes „Drin“, einer gemeinsamen Initiative der evangelischen Kirche Hessen-Nassau und der Diakonie Hessen. Es geht dabei um Maßnahmen gegen wachsende Armut und Ausgrenzung, um die Entwicklung von nachhaltigen, bedürfnisorientierten Alltagslösungen, von niedrigschwelligen Hilfen und neuen sozialen Netzwerken. „Drin“ steht für „Dabeisein – Räume entdecken – Initiativ werden – Nachbarschaft leben“. Zwei Mitarbeiterinnen besuchen alle Projekte: Margarete Reinel, Pfarrerin und Leiterin des Projekts, und die Betriebswirtin und Koordinatorin Annette Heinz. Sie nahmen an der Mittagsmahlzeit teil, lernten die Kinder näher kennen, kamen mit den Eltern ins Gespräch, befragten Familien, die schon zum zweiten Mal bei „Urlaub ohne Koffer“ mitmachten. Erfreulich: Auch 2018 wird es Drin-Mittel geben, sogar in größerem Umfang.
HINTERGRUND
Flüchtlinge bilden eine Mannschaft für Straßenfußball, bauen, unterstützt von einem Darmstädter Sportverein, Kondition auf, holen sich beim Hessentag den Cup. Senioren lernen, eine App zu benutzen, tauschen sich dort aus, wer im Garten Salat übrighat, wer Lust hat, ins Kino mitzugehen, welche Hausmittel anderen in einer Erkältungswelle helfen. In einer Kleinstadt wird ein leer stehender Laden zum Treffpunkt von Alteingesessenen, Neubürgern und Flüchtlingen, von jungen Familien und Senioren. Es gibt Tauschbörsen, gegenseitige Hilfsdienste. Diese Projekte haben eine Gemeinsamkeit: Sie werden mit Mitteln der Initiative „Drin“ von evangelischer Kirche und Diakonie Hessen von 2016 bis Ende 2018 gefördert. Kommunen, Vereine, aber auch die Bürger sind einbezogen, die Projekte sollen sich möglichst verselbstständigen. Sie werden punktuell von Fachkräften begleitet, Engagierte treffen sich mehrfach pro Jahr zum Austausch. Alles nichts Spektakuläres, ohne großen wissenschaftlichen Aufwand entwickelt – aber Initiativen, die das Leben leichter machen, Ältere und Jüngere einander näher bringen. Dazu sagt Pfarrerin und Drin-Leiterin Margarete Reinel: „Kirche muss zu den Menschen gehen, muss im unmittelbaren Lebensraum Anstöße gegen Isolation, Armut, Ausgrenzung geben. Netze nachhaltiger Nachbarschaft aufbauen – das ist es, was das Projekt will.“ (det)