04.06.2018
Quelle: Kreis-Anzeiger - 4.06.2018
Von Elfriede Maresch
(LISSBERG/em) - Am 10. Juni feiert die evangelische Kirchengemeinde Lißberg ihr 400-jähriges Bestehen. Im Festgottesdienst desselben Tages ab 10.30 Uhr wird zudem Pfarrer Kurt Walter Racky nach 30 Dienstjahren in dieser Gemeinde in den Ruhestand verabschiedet. Seelsorge und Kirchenmusik waren die beiden Schwerpunkte seines Berufslebens. Inzwischen ist er mit seiner Frau nach Gründau gezogen, wo sie ihren Ruhestand verbringen wollen. Der Kreis-Anzeiger sprach mit ihm über seine Arbeit und die Zukunft des Musikinstrumentenmuseums.
Herr Racky, Abschied nach 30 Jahren - ist das für Sie ein schmerzliches Sich-Losreißen, ein entspannter "Gemeinsam konnte vieles aufgebaut werden"-Rückblick oder Vorfreude auf den neuen Lebensabschnitt?
Von allem etwas. Es war für mich und meine Familie eine gute Zeit in Lißberg. Ich habe die Kirchengemeinde als Gemeinschaft erlebt. Was mit der Hinwendung zu anderen Menschen zu tun hat, habe ich immer als gute Aufgabe empfunden. Eine Chance war für mich, dass Lißberg nur eine halbe Pfarrstelle war, dass ich also überdurchschnittlich viel Zeit frei gestalten konnte, etwa mit kirchenmusikalischen Aktivitäten. Meine Frau und ich müssen schon einige Wurzeln aus dem Lißberger Boden lösen, unsere beiden Kinder sind hier groß geworden, von einem solchen "Erinnerungsraum" verabschiedet man sich nicht kurzerhand. Aber wir sind bereits umgezogen, fühlen uns in unserem kleineren Häuschen mit blühendem Garten wohl. Aufgaben bleiben, neue kommen hinzu. Von etlichen Mitgliedern bin ich gebeten worden, weiter in der Dekanatskantorei, Region Nidda mitzusingen, während die Büdinger Dekanatskantorin Anne Schneider mich auch gern im dortigen Chor hätte.
Was kam in Ihrem Leben zuerst? Die Musik oder die Theologie?
Chronologisch gesehen unbedingt die Musik. Ich bin Jahrgang 1954, habe meine Kindheit in Wiesbaden verbracht und mit acht Jahren begonnen, Klavier zu spielen. Ich war von Chorsängern umgeben. Mein Großvater und mein Onkel waren Männerchormitglieder und haben mich nach dem Stimmbruch dorthin mitgenommen. Dann kam auch bald die nächste Aufgabe: Der Gemeindepfarrer drängte mich, den Orgeldienst zu übernehmen. Ich war damals glühender Wagner-Fan und wenig interessiert an Barockem oder gar schleppendem Gemeindegesang. Aber der Pfarrer ließ nicht locker, ich begann mit Orgelstunden beim Kirchenmusiker Gustav Sieber an der Wiesbadener Kreuzkirche und ehe ich mich's versah, war ich mit 15 Jahren Organist und zunächst Vizechorleiter des Männerchores meiner Gemeinde.
Und der Brückenschlag zur Theologie?
Auch da spielte die Musik mit. Ein Kirchenvorsteher wollte mir Gutes tun und meldete mich bei einer Singwoche des Landeskirchenmusikdirektors Philipp Reich auf Burg Hohensolms an. Ich fühlte mich sofort in der Gruppe zu Hause und besuchte sie seither regelmäßig. Auf einer dieser Reichschen Singfreizeiten habe ich übrigens meine Frau kennengelernt. In der Hessischen Kantorei bin ich bis heute Mitglied, seit über 40 Jahren. Auf einer Freizeit bat mich Reich, die Andachten vorzubereiten und zu halten. Das war für mich ein Schlüsselerlebnis. Die intensive Beschäftigung mit dem Text ließ mich Aussagen verstehen, die ich vorher nur überlesen hatte. Es machte mir Freude, die Bibeltexte knapp und doch treffend zu erläutern, Bilder zu finden, die - hoffentlich - im Kopf der Zuhörer hängen bleiben.
Also haben Sie ihr Theologiestudium gleich nach dem Abitur aufgenommen?
Nein. Erst leistete ich zwei Jahre Wehrdienst ab und schied als Leutnant aus. Dann begann ich ein Studium der Pharmazie, hielt das auch acht Semester durch, hörte aber parallel Vorlesungen in Theologie und Kirchenmusik. Die Praxis fehlte auch nicht. Zehn Jahre lang hatte ich zwei Organistenstellen, leitete mehrere Chöre rund um Wiesbaden, war Dekanatsbeauftragter für Kirchenmusik im Dekanat Wiesbaden-Wallau, in dem ich ein Vokalensemble aufbaute, ähnlich wie später in Lißberg den Singkreis. Mit mehr als 300 Chorsängern aus dem Dekanat führten wir etwa eine 19-stimmige Schützmotette auf. Ich hatte damals in Igstadt eine Gartenhütte mit Traumaussicht, einen gut sortierten Weinkeller und einen großen Freundeskreis. Es war eine schöne Zeit. Aber nach Apothekenpraktika im Lauf des Studiums wurde mir klar: Das ist keine Arbeit, die ich mein Leben lang machen möchte. Ich brach das Studium kurz vor dem Examen ab und wechselte zur Theologie. Marburg und vor allem Heidelberg waren jetzt meine Studienorte. Rudolf Bohren als praktischer Theologe, Adolf Martin Ritter als Kirchenhistoriker, Klaus Berger als Neutestamentler - ich habe im Studium beeindruckende Leute gehört.
Warum gerade Lißberg als Pfarrstelle?
1988 war die Vikarszeit zu Ende und ich ging auf Stellensuche, mitten in der "Pfarrerschwemme", als kopfstarke Jahrgänge ihr Studium abgeschlossen hatten. Zunächst schienen überhaupt nur Gemeindepfarrstellen mit schwierigem Zuschnitt und öden Hochhaus-Dienstwohnungen offen zu sein. Dann bekam ich noch Lißberg als Teilzeitstelle angeboten. Ich fuhr hin, sah die schöne alte Kirche mit der Hillebrand-Orgel und hörte von Kurt Reichmann, der hier über das Himmelfahrtswochenende ein internationales Festival für Drehleier- und Dudelsack sowie alte Musik organisierte, damals mit bis zu 2000 Besuchern. Ich sagte zu meiner Frau: Das ist es, wir gehen nach Lißberg! Die Entscheidung habe ich nie bereut.
Es entstanden bald kirchenmusikalische Projekte...
Ja, ich gründete einen Jugendchor. Aber bei jungen Leuten bleiben Wechsel und Wandel nicht aus. Leute mit guten Stimmen verließen Lißberg zum Studium, neue kamen. Ich freue mich, dass daraus der Lißberger Singkreis als kleiner, leistungsstarker A-cappella-Chor mit derzeit 13 Sängern entstanden ist, mit musikbegeisterten Leuten, mit denen ich immer wieder Neues in der Chorliteratur der Jahrhunderte entdecke. Es hat mich immer fasziniert, wie sich die Stimmen der Jugendlichen entwickeln und reifer werden - zum Beispiel bei Frauen auch später, nach der Geburt ihrer Kinder.
Singen, musizieren und pilgern - Sie sind auch einer der Ideengeber der Bonifatiusroute.
Ja, der Ausgangspunkt dazu war die Initiative zur Rettung unserer Schafskirchenruine im Wald oberhalb Lißbergs seit 1998, die zu einer der Stationen der Bonifatiusroute wurde. Dank vieler engagierter Ehrenamtliche und Fachleute ist es in jahrelanger Arbeit gelungen, die 172 Kilometer lange Wanderstrecke von Mainz nach Fulda - oder umgekehrt - zu realisieren. Schon die Eröffnung 2004 zum 1250. Todestag von Wynfreth-Bonifatius war für viele Mitwandernde ein großes Erlebnis. Noch schöner ist es für mich, dass die Route kein kurzatmiger Tourismus-Hype war, sondern bis heute intensiv genutzt wird, von Einzelwanderern wie von Gruppen. Viele sind offen für die spirituellen Aspekte dieses Weges. Jedes Jahr lädt unser Trägerverein, dessen stellvertretender Vorsitzender ich bin, zu einer mehrtägigen Wanderung jeweils auf einem Routenabschnitt ein, organisiert von der Touristikfachfrau Gudrun Haas.
Mit etwas Glück hören die Wanderer ein Konzert des Bonifatiusensembles.
Durch die Zusammenarbeit mit dem Musikinstrumentenbauer Kurt Reichmann und seiner Frau Heinke bin ich in die Arbeit des Musikinstrumentenmuseums Lißberg hineingewachsen, das ich von Beginn an seit 1990 leite. So kam es zu Konzerten des Lißberger Singkreises mit den Spielern alter Instrumente aus dem Museum, das Bonifatiusensemble entstand. Subtile Klänge kamen zustande: Hildegard von Bingen-Antiphonen wurden mit dem Organistrum oder auch der obertonreichen Shruti-Box begleitet, Bonifatiushymnen des 19. Jahrhunderts mit dem Choralion, einem typischen Missionarsinstrument dieser Epoche. Wir haben öfter an Stationen der Bonifatiusroute gespielt, gaben auch einmal beim Frankfurter Museumsuferfest Konzerte im Archäologischen Museum.
Das Musikinstrumentenmuseum konnte im Mai 2015 sein 25-jähriges Bestehen feiern. Sie haben Kurt Reichmanns Erbe mit viel Liebe weitergeführt.
Die weltweit größte Drehleier-Dudelsacksammlung, das einzig spielbare Nürnbergisch Geigenwerk und viele andere Besonderheiten, interaktive Angebote bei den Führungen, Besucher aus vielen Ländern machen uns viel Freude. Aber Freude und Frust liegen immer beieinander. Obwohl sich der Freundeskreis des Museums seit Jahren dafür einsetzt, ist es uns nicht gelungen, Mittel für den dringend notwendigen Erweiterungsbau zusammen zu bringen.
Neben Ihren pfarramtlichen Aufgaben haben Sie viele Menschen zur Mitarbeit gewonnen und Projekte vorangetrieben. Wie ist das gelungen?
Zum einen durch die Hilfe meiner Frau, die ebenso viel Freude an Musik, am Chorsingen hat wie ich. Im Unterschied zu mir kann sie gut organisieren, besonders bei Verwaltungsaufgaben, die sie als Gemeindesekretärin erledigt hat. Bei den Kinderkrankheiten zur Einführungszeit der kirchlichen Datenverwaltung war sie eine unentbehrliche Arbeitspartnerin. Jetzt allerdings hat sie gesagt: "Wenn in der Kirchenverwaltung noch die Doppik eingeführt wird, ist es Zeit, dass wir gehen." So wird einem der Abschied erleichtert. Zum andern war es die gute Zusammenarbeit mit dem Lißberger Kirchenvorstand, mit Gemeindegliedern, die sich ehrenamtlich engagiert haben, im Museum, bei der Bonifatiusroute und vielem mehr. Ich habe auch die schweren Seiten des Pfarramts erlebt, hatte etwa auf tragische Weise verstorbene Menschen zu beerdigen, habe den Kummer ihrer Angehörigen mitgetragen. Sorge macht mir die voranschreitende Verödung des ländlichen Raumes. Das alles ist in den 30 Jahren unserer Lißberger Zeit verschwunden: die Post, die Bäckerei, die Tankstelle, das Lebensmittelgeschäft.
Müssen sich die Lißberger auf eine lange Vakanzzeit einstellen?
Nein, erfreulicherweise nicht. Die Nachbarpfarrerin Regine Jünger, im Ort gut bekannt, wird den Lißberger Stellenanteil übernehmen.
Sie machen sich auch Gedanken über die zunehmende Entfremdung zum Glauben, zur Kirche.
Ich befürchte, dass Deutschland in einigen Jahrzehnten kein christliches Land mehr sein wird. Ich glaube, dass sich Menschen damit den Weg zur Quelle ihres Seins abschneiden - ein Leben ohne Gott kann ich mir nicht vorstellen. Unsere Kultur ist seit 2000 Jahren vom Christentum geprägt. Kirchen als Einkaufszentren? Die Matthäuspassion, das Deutsche Requiem als konzertante Events? Die Lieder von Luther, Paul Gerhardt, Matthias Claudius verstauben in Bibliotheken? Für mich unvorstellbar. Aber ich halte mir selbst entgegen: Die Fäden liegen letztlich doch in der Hand Gottes.