Von Elfriede Maresch
Quelle: Kreis-Anzeiger – 25.02.2019
Ilse Stein war Jüdin und stammte aus dem Ort Geiß-Nidda. Sie war im KZ, erlebte Unmenschliches, aber überlebte durch die besondere Tat eines Wehrmachtsbeamten. 100 Menschen kamen in den Gemeindesaal in Geiß-Nidda, um in einem Vortrag mehr über ihr Schicksal zu erfahren.
(GEISS-NIDDA/em) - Eigentlich hatten das Jüdische Museum und die evangelische Kirchengemeinde Geiß-Nidda/Bad Salzhausen nur mit etwa 30 Gästen gerechnet. Stattdessen begrüßten Gemeindepfarrerin Heike Schalaster und Hildegard Schiebe vom Jüdischen Museum 100 Interessierte im Geiß-Niddaer Gemeindesaal. Keiner hätte gedacht, dass die Lebensgeschichte der im Ort geborenen jüdischen Bürgerin Ilse Stein und die Verbindung ihres Schicksals mit zeitgeschichtlichen Ereignissen so viele Menschen anziehen würde. Die Freude war den Gastgebern bei der Begrüßung anzumerken.
Ortsbürger Kurt Müller zeigte mit einem Straßenplan, wo jüdische Familien lange Zeit in selbstverständlicher Nachbarschaft gelebt hatten und erinnerte an den jüdischen Teil des Gemeindefriedhofs. Der Historiker und Radiojournalist Johannes Winter brachte seine Bücher "Herzanschlag" und "Die verlorene Liebe der Ilse Stein" mit. In den 90er Jahren forschte er über das Schicksal jüdischer Bürger Oberhessens und war bei seinen Recherchen auch auf die Spur der 1924 geborenen Stein gestoßen. Er besuchte sie 1992 an ihrem Wohnort Rostow am Don, was seinen Ausführungen besondere Authentizität verlieh. Winters Forschungen waren auch nützlich für den Dokumentarfilmer Ulf von Mechow und flossen in dessen Werk "Die Jüdin und der Hauptmann" ein.
Doch zunächst kam Madeleine Michel zu Wort, die in Gießen Neuere Geschichte studiert und das Jüdische Museum Nidda als Forschungsstätte nutzt. Sie konnte in der Gedenkstätte Malyj Trostenez, einem Vorort von Minsk, dabei sein, als Bundespräsident Walter Steinmeier 2017 einen Erweiterungsabschnitt eröffnete. An dieser Stelle stand das Lager, in das Ilse Stein mit ihren Eltern und ihren zwei Schwestern eingeliefert wurden. Da hatte die Familie Stein bereits Schlimmes hinter sich: schleichender Entzug der Bürgerrechte, Plünderung ihres kleinen Ladens in der Reichspogromnacht, "Verkauf" des Geiß-Niddaer Besitzes, der eher eine Enteignung war, Ghetto-ähnliche Unterbringung in einem Frankfurter "Judenhaus". Michel schilderte, wie im Juli 1941 deutsche Truppen Minsk bombardierten und eroberten. Im Zuge des "Unternehmens Barbarossa" wurden 8000 Juden auf einer Fläche von zwei Quadratkilometern zusammengedrängt. Extreme Unterernährung und Seuchen waren die Folge. Das eigentliche Vernichtungslage Malyj Trostenez war eines der größten in den besetzten Gebieten. Die Zahl der Todesopfer - neben rassisch auch politisch Verfolgte - wird auf 206 000 aus mehreren Nationen geschätzt. Malyj Trostenez war dreigeteilt in ein Zwangsarbeiterlager, in den Ortsteil Blagowtschina, wo die Massenerschießungen stattfanden und das Waldstück Schachkowa, wo die Leichen verbrannt wurden. Erst Ende Juni 1944 wurde das Lager aufgelöst und die Rote Armee konnte Minsk befreien.
1994 wurde Mechows Film erstmals ausgestrahlt, der sich auch in Geiß-Nidda als eindrucksvolles Zeitdokument erwies, gestützt auf Recherchen in Archiven mehrerer Länder, auf Filmaufnahmen der Kriegszeit, auf Gespräche mit überlebenden Zeitzeugen des Lagers und der Partisanenbewegung. Doch trotz verheerender Lebensverhältnisse im Minsker Ghetto reden heute noch Überlebende von "Schutzengeln", nämlich deutschen oder auch russischen Verantwortlichen in der Lagerhierarchie, die wenigstens geringe Solidarität erwiesen und Häftlinge schützten.
Einer von ihnen war Willi Schulz, Wehrmachtsbeamter und "Judenaufseher" im Minsker Ghetto bei den Arbeitstrupps sowie loyaler Anhänger des NS-Systems. Ein Widerstandskämpfer war er ganz sicher nicht. Bewog ihn Mitgefühl, als er die Zwangsarbeiterin Ilse und ihren Arbeitstrupp während einer Massenerschießung versteckte? Oder war es zunehmende Verliebtheit des älteren Mannes in das junge Mädchen? Seine Zuwendung und mangelnde Linientreue fielen auf, die Abkommandierung an die Front stand bevor. In einer fast misslungenen Flucht rettete er sich mit Ilse, ihren beiden Schwestern und 25 weitere jüdischen Häftlingen zu den Partisanen. Doch auch dort war Überleben schwierig: Schulz starb im Umerziehungslager. Ilse, die nach Sibirien deportiert wurde und unter unmenschlichen Bedingungen lebte, verlor ihr erstes Kind. Dennoch gelang ihr der Aufbau einer neuen Existenz.
Sie lebte mit ihrer Familie in Rostow am Don, als die Kontaktaufnahme mit den Spurensuchern aus Deutschland gelang. In den Filmaufnahmen Mechows beeindruckt der Überlebenswille der älteren Frau. Sie war einmal zu Besuch in Geiß-Nidda, traf sich mit ihrer Kindheitsfreundin Milli Born. Doch ehe ihr großer Wunsch, dauerhaft nach Deutschland zurückzukehren, realisiert werden konnte, starb Ilse Stein im Jahr 1993. Mit einem Gebet Pfarrerin Schalasters schloss der Abend.
Das Buch von Johannes Winter erschien im Verlag Brandes & Apsel und hat die ISBN-Nummer 978-3-86099-734-5