Herrnhaag

Altes bewahren, Neues integrieren

 

KONTINUITÄT: Kerstin Mohn ist seit 25 Jahren Pfarrerin der Kirchengemeinde Herrnhaag / Kirche betrachtet die Seelsorgerin als wichtigen Teil der Gesellschaft

 

 

Von Elke Kaltenschnee

 

 

 

(VONHAUSEN/ka) - Ihre Predigten haben oft einen aktuellen Bezug. Sonntagmorgens vor dem Gottesdienst schaut Kerstin Mohn noch einmal im Internet nach relevanten Neuigkeiten. Als die Gemeinde am vergangenen Sonntag das Erntedankfest feierte, hat die Pfarrerin die Vergiftung von Babynahrung durch einen Erpresser aufgegriffen. Lebensmittel seien schließlich lebenswichtig. „Wenn ein Mensch mit einer solchen Drohung Druck ausübt und die Kleinsten gefährdet, geht das doch ans Ureigene“, sagt sie.

 

 

Kerstin Mohn ist Pfarrerin der Kirchengemeinde Herrnhaag. Weithin sichtbar thront deren Kirche auf dem Hügel zwischen Lorbach, Diebach am Haag und Vonhausen. Allein durch ihre Lage schafft sie eine räumliche und eine symbolische Verbindung zwischen den Orten, die zur Gemeinde gehören. Dort oben liegt auch der Friedhof, auf dem Menschen gleich welcher Konfession und Lebenseinstellung bestattet werden und den die Kirchengemeinde verwaltet. „Auch der Friedhof hat etwas Verbindendes“, sagt Kerstin Mohn und: „Ich komme durch die Verwaltung mit so vielen Menschen in Kontakt. Auch mit solchen, die mit Kirche nichts zu tun haben.“

 

 

Die Pfarrerin liebt ihren Beruf, den sie wohl einer frommen Deutsch- und Religionslehrerin an ihrer Schule in Nidda zu verdanken hat. Diese gründete damals einen Bibelkreis, an dem auch Kerstin Mohn teilnahm. „Aus meiner alten Klasse sind fünf Pfarrerinnen und Pfarrer hervorgegangen“, erzählt sie. Großen Einfluss auf ihre Berufswahl hatte aber auch der damaligen Niddaer Gemeindepfarrer Klaus Heinle. „Der hat Schwung in die Bude gebracht“, sagt die 59-Jährige. Gemeinsam mit ihm und anderen organisierte sie in ihrer Jugend Freizeiten und lernte in dieser Gemeinschaft auch Oliver Mohn kennen, ihren späteren Ehemann. Nach dem Abitur im Jahr 1977 studierte sie ein Jahr Theologie in Frankfurt, anschließend fünf Jahre in Tübingen. Ebenfalls gemeinsam mit ihrem Mann. Nach dem Studium schloss sich ihr Vikariat in Dieburg bei Darmstadt an. Danach lebte und arbeitete das Pfarrerehepaar Mohn sieben Jahre lang in Höchst im Odenwald.

 

Dort brachte sie auch ihren Sohn Jakob zur Welt. „Das war eine spannende Zeit“, sagt Kerstin Mohn und hängt einen Moment ihren Gedanken nach. Nach ihrer ersten Beerdigung in Höchst sei sie noch zum Kaffeetrinken mitgegangen. „Da war ich Mitte 20. Einer der Gäste, ein älterer Mann, beugte sich zu mir und sagte: ‚Das haben Sie aber schön gemacht, junge Frau. Hat Ihnen Ihr Mann da geholfen?‘“ Sie sei ziemlich sauer gewesen, damals mit Mitte 20 im Odenwald. Heute lacht sie über die Geschichte. Laut und erfrischend.

 

 

Nach Oberhessen sind Kerstin und Oliver Mohn aus familiären Gründen zurückgekommen: „Beide Väter sind mit Mitte 50 gestorben. Wir verspürten beide den Wunsch, in die Nähe unserer Familie zu ziehen.“ Als 1992 die Pfarrstelle der Kirchengemeinde Herrnhaag ausgeschrieben wurde, bewarb sich das Paar also und trat am 1. Oktober desselben Jahres seinen Dienst an. Oliver und Kerstin Mohn teilten sich die Stelle eine ganze Weile. Oliver Mohn arbeitet – nach einer Tätigkeit als Gefängnispfarrer in der Justizvollzugsanstalt in Gießen – seit 2012 als Gemeindepfarrer in Eckartshausen.

 

Sie ist nun seit 25 Jahren in ihrer Kirchengemeinde tätig. Das habe Tradition, bekräftigt sie: „Mein Vorgänger ist 20 Jahre im Amt gewesen; der legendäre Pfarrer Schmidt 26 Jahre. Das spricht für die Gemeinde.“ Als ihr Dienstjubiläum näher rückte, stellte sich Kerstin Mohn dennoch die Frage, warum sie nie die Stelle gewechselt hat. „Ich habe hier große Freiheiten, kreativ und inhaltlich zu arbeiten. Konflikte gibt es auch, aber das ist ja überall so. Ich darf und durfte viel Neues ausprobieren. Es ist ein gutes Miteinander und ich habe ein gutes Team, das anpackt. Bei Aktionen und Projekten finden sich immer Mitglieder der Gemeinde, die mithelfen und zu tun gibt es viel.“

 

 

Kontinuität sei wichtig, in diesen Zeiten, die von Veränderung in der Gesellschaft und in der Arbeitswelt geprägt sind und von einen Lebensgefühl des „Alles immer schneller und am besten sofort“, befindet Kerstin Mohn. In der Kirchengemeinde möchte sie das Alte bewahren, wenn es sinnvoll ist, und nach dem gleichen Grundsatz „Neues anschauen und integrieren“. Kirche könne in Zeiten des Wandels Kontinuität bieten. „Post, Bank, Lebensmittelladen, Bäckerei, Arztpraxis, Gaststätten: All diese Einrichtungen verschwinden nach und nach aus den kleinen Dörfern. Aber wir bleiben“, sagt sie und 25 Gruppenfotos geben ihr recht. Im Gemeindesaal hängen sie und alle Konfirmanden, die Kerstin Mohn seit 1992 konfirmiert hat, sind darauf zu sehen. Viele dieser ehemaligen Konfirmanden hat die Pfarrerin später oben in der Kirche auf dem Herrnhaag getraut und später deren Kinder getauft. „In entscheidenden Lebensmomenten gibt es die Sehnsucht nach vertrauten Orten und Gesichtern“, sagt Kerstin Mohn.

 

 

Doch bei aller Kontinuität verändert sich in einem Vierteljahrhundert doch vieles. Zum Beispiel in der Bestattungskultur. Urnengräber, Urnenstelen, Rasengräber oder anonyme Gräber seien heutzutage gefragt, weil Erdgräber immer teurer werden. Hinterbliebene könnten oder wollten sich nicht mehr zumuten, jahrzehntelang ein Grab zu pflegen. Geändert hat sich auch der Anspruch an Lebensereignisse wie Hochzeiten, Taufen oder Beerdigungen. Die Kirche würde von vielen als Dienstleister wahrgenommen und sei bei einem Ereignis nur einer von mehreren Bestandteilen. Kirchenbauten würden als Raum für die eigene Individualgestaltung genutzt. Die Kirche auf dem Herrnhaag sei weit über die Region hinaus zu einem beliebten Ort für Trauungen geworden.

 

 

Kirche betrachtet Kerstin Mohn als Teil der Gesellschaft, vor allem auf dem Land. Sie sei nach wie vor eine wichtige Institution. „Wir begleiten Menschen, wenn sie fragen: Was ist der Sinn? Wozu das alles? Warum ich? Arbeitsplatzverlust, Krankheit, Depressionen, Vereinsamung können Menschen aus der Bahn werfen. Dann ist Kirche für sie da.“ Ja, Kerstin Mohn ist es wichtig, dass die Gemeindemitglieder wissen, dass ihre Pfarrerin immer für sie da ist, wenn sie Begleitung brauchen. Sprechstunden hätten sie und ihr Mann deshalb nie eingeführt.

 

 

Eine Trennung von Beruf und Privatleben sei ja für einen Pfarrer ohnehin kaum möglich: „Das ist schon klar, wenn man den Beruf ergreift.“ Wie sehr sie in die Gemeinde eingebunden ist, macht sie mit einer kurzen Geschichte deutlich. „Einmal habe ich im Lebensmittelgeschäft von Heinz Altenburg eingekauft. Ein Laden, den es nicht mehr gibt. Da hat das Telefon geläutet. ‚Ich geh mal ran‘, hat der Heinz gesagt und ist nach hinten gegangen. ‚Ist für dich‘, hat er gesagt, als er zurückkam und mir das Telefon gereicht. ,Ach Frau Pfarrer, ich hab ihr Auto beim Heinz stehen sehen und wollte sie mal was fragen...‘“ Dienst nach Vorschrift scheint es für eine Pfarrerin auf dem Land nicht zu geben. Daran hat sich in den letzten 25 Jahren wohl nichts geändert.