REFORMATION: Zentraler Gottesdienst der Region Ost des ehemaligen Dekanats Nidda / Gesang und Gebete

Luther hätte seine Freude gehabt

 

(HIRZENHAIN/em) -  Martin Luther, bekanntlich ein Freund der Musik, hätte an diesem zentralen Reformationsgottesdienst der Region Ost des ehemaligen Dekanats Nidda seine Freude gehabt. Zum „gemeinsamen Singen und Beten“ lud die Hirzenhainer Pfarrerin Kerstin Hillgärtner die Besucher ein. Zusammen mit Pfarrerin Regine Jünger (Schwickartshausen) gestaltete sie die Liturgie, die Predigt hielt Pfarrerin Beate Henke (Wallernhausen).

 

Kirchenmusikerin Karin Sachers hatte Choralbearbeitungen des wohl bekanntesten Lutherliedes „Ein feste Burg“ in der Klangsprache mehrerer Epochen ausgewählt. So waren zeitgenössische Versionen von Matthias Nagel und Klaus Uwe Ludwig zu hören, letztere erinnerte in eigenwilligen Dissonanzen an die „Welt voll Teufel“. Sachers spielte aber auch eine barocke Bearbeitung von Johann Nicolaus Hanff. Der Lißberger Singkreis, ein anspruchsvoller A-cappella-Chor, war mit elf Sängerinnen und Sängern gekommen. Kurt Walter Racky, Pfarrer und Kirchenmusiker, hatte selten gesungene Motetten der Reformationszeit ausgesucht, die sich als kleine Klangkostbarkeiten erwiesen. Ein Zeitgenosse des Reformators schien am Lesepult zu stehen: Hans-Jürgen Philipps (Eckartsborn) trug in schwarzem Talar und mit strengem Barett auf dem Kopf abschnittsweise Texte des Reformators vor, die in dessen Gedankenwelt und Theologie führten.

 

„Nun bitten wir den Heiligen Geist“ – der Singkreis stellte sich auf der Lettner-Empore auf und trug zwei Motteten von Johann Walter, dem Herausgeber des ersten evangelischen Gesangbuchs, vor. Aus dem kunstvollen Stimmenspiel des zweiten Werkes trat immer wieder die bittende Titelzeile hervor. „Wenn ich nicht durch die Heilige Schrift widerleget werde, widerrufe ich nicht“: Mit diesem Textabschnitt erinnerte Philipps an Luthers Standhaftigkeit auf dem Reichstag in Worms. Vor dem Glaubensbekenntnis der Gemeinde brachte er eine eigenständige Formulierung Luthers, danach ein Beispiel der kraftvollen, bildhaften Sprache des Reformators, eine Warnung vor dem Versucher als Trägheits-, Langeweile-, Egoismus-, Besitz- und Vergnügungsteufel.

 

Der Singkreis stimmte in dunkler ernster Einstimmigkeit Günter Raphaels Vertonung „Erhalt uns Herr bei Deinem Wort“ an, ehe sich die Stimmen entfalteten. Weiß man um das Schicksal des Komponisten, der als Halbjude im Dritten Reich schweren Repressalien ausgesetzt war, so war der bittende Abschnitt der Männerstimmen – „Beschirm dein arme Christenheit“ – besonders bewegend, ehe die Motette in der feinen Schluss-Kantilene „Dass sie dich lob in Ewigkeit“ zu Ende ging.

 

Von heutigen Shopping-Erfahrungen ging Pfarrerin Henke in ihrer Predigt aus. Sie deutete in dieser Gedankenlinie Luthers Ablasskritik als „Produktwarnung“ und stellte der fundamentalen Angst der Menschen des 16. Jahrhunderts „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ die Grundangst von heute gegenüber: „Wie behalte ich alles, was ich habe: Glück, Vertrautes, Lebensstandard?“ Sie schloss mit der Ermutigung: „Glauben heißt Vertrauen, Gemeinschaft stärkt in Krisen.“

 

Melchior Vulpius vertonte den Text der Luther-Zeitgenossin Elisabeth Cruciger „Herr Christ, der einig Gotts Sohn“ zu einer achtstimmigen gekoppelten Motette, die der Singkreis nach dem Fürbittengebet vortrug. Es folgte „Non morior, sed vivam“, die Vertonung des 118. Psalms, von Luther getextet und komponiert. Um das Beten als Mittel gegen Zukunftsängste ging es im letzten Luthertext, den Philipps sprach, ehe der Singkreis mit der fünfstimmigen Heinrich-Schütz-Motette „Verleih uns Frieden gnädiglich“ und Karin Sachers mit einem Allegro von Philipp Emanuel Bach den Gottesdienst ausklingen ließen.