Von Elfriede Maresch
LISSBERG - Regine Jünger ist seit Anfang 1994 Pfarrerin des Kirchspiels Schwickartshausen, Bobenhausen I und Eckartsborn. Nun übernimmt sie zusätzlich eine weitere Aufgabe: die halbe Pfarrstelle in Lißberg. Im Gespräch mit dem Kreis-Anzeiger legt Jünger die Schwerpunkte des Pfarrdienstes im ländlichen Raum dar.
Frau Jünger, zu einem Kirchspiel mit drei Teilen kommt nun ein vierter, selbstständiger Teil dazu. Ist das eher Lust oder Last für Sie?
Ein Mehr an Aufgaben und Verantwortung gewiss, aber auch ein Mehr an menschlichen Begegnungen, auf die ich mich freue. "Mit Menschen auf Entdeckung gehen" ist für mich eine Quelle steter Lebendigkeit im Pfarrdienst.
Entgegen mancher Empfehlungen der Kirchenleitung ("Alle zehn Jahre die Pfarrstelle wechseln") sind Sie seit 25 Jahren Pfarrerin einer Landgemeinde und wollen es auch bleiben. Sind Sie damit sozusagen in Ihrem Kindheits- und Jugendmilieu geblieben?
Überhaupt nicht. Ich bin 1964 in Hamburg geboren. Meine Familie ist, bedingt durch den Beruf meines Vaters, häufig umgezogen, aber immer im großstädtischen Raum, wir haben in Kassel, Hannover und Mainz gelebt. Das Abitur habe ich in Ludwigsburg gemacht. Vielleicht fasziniert mich deshalb das Phänomen Heimat. Es sind Orte, wo Familien seit Generationen zu Hause sind.
Waren es eher Impulse aus der Familie oder aus der Kirchengemeinde, die Sie zum Pfarrberuf hingezogen haben?
Die Anregungen kamen weniger aus meiner Familie, die war eher volkskirchlich eingestellt, und mehr aus Glaubensbegegnungen von außen. Ich ging gern in den Religions-, den Konfirmandenunterricht. Durch den Pfarrer, der mich konfirmierte, habe ich gute Einblicke in den Berufsalltag von Kirchengemeinden bekommen, habe begonnen, im Kindergottesdienst und bei anderen Gemeindeprojekten zu helfen. Vor dem Abitur schwankte ich zwischen Medizin- und Theologiestudium - und nahm mir bewusst eine Entscheidungszeit: ein Freiwilliges Soziales Jahr auf der Pflegestation eines Seniorenheims.
Sie schlugen den Weg in die Theologie ein. War das Studium eine gute Zeit für Sie?
Ja. Das Studium hat mir neue Sichtweisen und Wahrnehmungen vermittelt, die mich heute noch begleiten. Und doch ist meine erste Erinnerung: Massen-Uni - voll bis zum Rand! Ich habe erst in Mainz, dann in Heidelberg studiert und bin dann wieder nach Mainz zurückgegangen, weil dort einfach die Rahmenbedingungen günstiger waren. In Heidelberg waren die Seminarräume zum Teil so voll, dass wir zum Mithören draußen vor den Fenstern standen. Der Schwerpunkt "Altes Testament" hat mir neue Denk- und Ausdruckswelten erschlossen. Ich bin ein sprachbegeisterter Mensch, ich habe mit Freude die Poesie des Alten Testaments für mich entdeckt, habe biblische Bücher besser verstanden, in denen es um menschliche Schlüsselfiguren wie Hiob geht. Besonders der Mainzer Alttestamentler Professor Diethelm Michel war ein guter Lehrer für mich. In der Systematischen Theologie ist mein Interesse am philosophischen Denken geweckt worden, das mich bis heute begleitet. Gelernt habe ich dort beispielsweise, dem Satz "Das ist die reine Wahrheit" zu misstrauen. Immer sind menschliche Vorbehalte dabei. Meine dritte Entdeckung im Studium war die feministische Theologie, damals in Mainz verkörpert durch die beeindruckende Luise Schottroff. Ich habe Frauen der Bibel viel aufmerksamer wahrnehmen gelernt, mich in diesem Zusammenhang mit der Gottessohnschaft Jesu auseinandergesetzt.
Folgte im Vikariat dann der Praxisschock?
Nein. Es gab neue Aufgaben und Herausforderungen, man wuchs in die Berufsrolle hinein. Vieles hat mir beim Vikariat in Hofheim-Wallau Freude gemacht: die Gestaltung der Gottesdienste, auch mit Gemeindegliedern zusammen, die Seelsorge. Eigentlich ist die Kernaufgabe für mich bis heute gleich- geblieben: die Studieninhalte, die wissenschaftliche Theologie mit Glauben und Leben zu verbinden, eine Brücke zu schlagen zwischen dem logischen, systematischen Denken und der Ebene der Emotionen, der Symbole und Rituale, des Kommunikativen.
So haben Sie als städtisch geprägte junge Theologin eine absolut ländliche Gemeinde übernommen.
Ich hatte im Vorfeld der Bewerbung das Gespräch mit verschiedenen Pröpsten gesucht und mir im Stillen vorgenommen: bloß nie nach Nordnassau oder Oberhessen! Dann rief mich der Propst von Oberhessen, Klaus Eibach, an und schlug mir offene Stellen in seinem Bereich vor, verbunden mit dem Trost: "Nach drei Jahren können Sie sich ja wegbewerben." Es war ein so gutes Gespräch, dass ich spontan sagte: "Ich versuch's auf dem Land!" - und kam nach Schwickartshausen, in eine neue und bis dahin fremde Welt. Ich bin hier gerne heimisch geworden und nun schon fast 25 Jahre da.
Statt eines dörflichen Idylls sind das Orte, die mit Bevölkerungsschwund und Strukturschwäche kämpfen - sehen Sie da Auswege?
Zunächst einmal: Eckartsborn ist durch die Nähe zu Ortenberg weniger von diesem Prozess betroffen, die beiden anderen Orte umso mehr. 1993 hatte Schwickartshausen 1250 Gemeindeglieder, heute sind es noch 870. Kirchenaustritte spielen so gut wie keine Rolle, umso mehr aber, dass junge Leute zur Ausbildung oder der Arbeitsstelle wegen wegziehen müssen. Senioren sterben oder können nicht mehr alleine leben, ziehen weg in Altersheime. Die schwindende Bevölkerungszahl wirkt sich auch auf das Vereinsleben, auf gemeinschaftliche Aktivitäten aus - ein unheilvoller Kreis. Dass wir in der Großgemeinde Ortenberg jetzt schnelleres Internet haben, ist eine klare Verbesserung. Mehr Arbeitnehmer sollten im Home Office arbeiten können. Der ÖPNV müsste ausgebaut werden - der ländliche Raum braucht Strukturverbesserungen, die viel Geld kosten. Ich will die erfreulichen Trends nicht übersehen: Es gibt wieder mehr Taufen im Kirchspiel, es gibt Bürger, die bewusst hierhergezogen sind, um naturnäher zu leben, die Chance der Tierhaltung, der Gartenpflege zu haben. Mit Lißberg kommen 560 weitere Gemeindeglieder hinzu, ein Anreiz, auch die überörtlichen Kontakte zu vertiefen.
Das Landleben bedeutet Nähe und soziale Kontrolle zugleich.
Sicher, es gilt die richtige Mischung von Nähe und Distanz zu finden. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Missverständnisse oder der Anfang von Konflikten am besten durch direktes Gespräch mit dem Betroffenen auf Augenhöhe ausgeräumt werden können. Auch bei Menschen mit sehr konträren Ansichten, mit Verhalten, das ich nicht billigen kann, halte ich mir vor Augen: Du bist Gottes Kind - so wie ich. Grundsätzlich muss ich sagen: Kontinuierliche Beziehungen zu anderen Menschen bedeuten mir viel. Ich freue mich, Familien zu begegnen, wo ich schon den Großvater beerdigt, ein Paar der jungen Generation getraut, die Kinder getauft habe.
Sie haben eine kunsthistorisch wertvolle Kirche in Schwickartshausen und historische Gottesdiensträume in Bobenhausen II und Eckartsborn.
Wir konnten 1997 die Alte Schule Eckartsborn renovieren und so einen Gottesdienstraum gewinnen. Für Unterstützung sind wir insbesondere Renate Klingelhöfer sehr dankbar. 2003 konnten wir auf Anregung von Karola Zühlke die historische Orgel durch eine Restaurierung wieder spielbar machen. Die Kirche Schwickartshausen bekam einen neuen Fassadenanstrich, drei neue Chorfenster und der Turm hat eine ganz besondere Funktion: Er ist Sommerquartier für Fledermäuse, wobei uns Fachmann Adam Strecker berät. Kleinere Renovierungen gab es auch im Gottesdienstraum in Bobenhausens Alter Schule. Wichtiger noch sind mir aber Gemeindeprojekte: der schon lange bestehende Besuchsdienstkreis, dessen Teilnehmer ich supervisorisch begleite, der ortsübergreifende monatliche Geburtstagskaffee für alle über 70-Jährigen, Themengottesdienste mit einem dazu passenden Kinofilm, der neu eingerichtete Gemeindebrief - Initiativen, wo die Gemeindeglieder die Erfahrung machen: die Kirche begleitet mich in meinem Alltagsleben. Gute Kooperationspartner sind dabei die Mitglieder des Kirchenvorstandes in Schwickartshausen mit dem Vorsitzenden Hans-Peter Büntig. Auch mit dem Lißberger Kirchenvorstand und Tina Wagner an der Spitze zeichnet sich das ab.
Wird es auch in Lißberg solche "Kirche, die den Alltag begleitet", geben?
Sicher - im Dialog mit den Gemeindegliedern, mit deren Wünschen und Bedürfnissen, unter Nutzung der Talente, die sie einbringen. Ich habe mich sehr gefreut, als ein Kind fragte: "Gibt es dann auch wieder Kindergottesdienst?" Das wollen wir wieder aufbauen. Am 25. Oktober ist von 15 bis 17 Uhr ein Nachmittag für Kinder aller vier Gemeindeteile mit dem Thema Schöpfung geplant - sehr anschaulich. Die Kinder können dabei auch einen Therapiehund kennenlernen.
Viele Aufgaben und ein neues Feld dazu - welche Gegengewichte suchen Sie in Ihrer Freizeit?
Ich singe gern, bin Mitglied der Dekanatskantorei, spiele Cello, Klavier, ein wenig Saxofon und Klarinette. Zur Freizeit gehören für mich Hund, Katze und Bücher. Ich lese gern die großen Autoren aus dem Norden wie Storm, Fontane, dazwischen auch Krimis, solche mit Atmosphäre. Theologische Fachliteratur zu lesen schaffe ich nur punktuell, aber meine besondere Liebe gehört der Lyrik, der "Musik in Worten". Und ich genieße mein Wohnmobil, schraube gern daran herum. Zunehmend gelingt es mir, kleinere Teile auszutauschen. In unserem Kirchspiel gibt es viele handwerklich sehr Talentierte, richtige (Fast-)Alleskönner. In Haus und Garten vieles selber machen, dem Nachbarn helfen und dabei noch dazu lernen - das ist auch etwas, was ich am Landleben schätze.