Musikmomente

Höchste Präzision

14.09.2016

 

Quelle: Kreis-Anzeiger 14.09.2016

 

(NIDDA/em) - Ein schwebender Bordun-Ton baute sich aus der Tiefe des großen Kirchenraumes auf, davor wechselnd mit einer Tenor- und einer Bassstimme in großer Klarheit und Eindringlichkeit das „Thomas-Graduale“, ein Apostellob aus dem 14. Jahrhundert: Schätze alter, wenig bekannter A-cappella-Kirchenmusik brachte das Leipziger Vokalquintett Amarcord zu „Nidda in Concert“ mit. Es sangen die Tenöre Wolfram Lattke und Robert Pohlers, Frank Ozimek (Bariton) sowie Daniel Knauft und Holger Krause (beide Bass). 200 Zuhörer konnte Pfarrer Mathias Miedreich in der Katholischen Liebfrauenkirche begrüßen.

 

 

Noch gregorianisch geprägt war „Deus, sator mortalitum“, ein Hymnus von Sethus Calvisius, der von 1594 bis 1615 Thomaskantor war, dann in subtilem Kontrast rhythmisch-bewegt, in reicher Polyphonie Orlando di Lassos „Confitemini Domino“. Ruhevoll schien die feine Harmonie von Calvisius‘ Abendlied „Te lucis ante terminum“ auf die Nacht einzustimmen. 

 

 

Homogenität

 

Atemberaubende Homogenität, polyphones Klangspiel in höchster Präzision und von den Jahren im Thomanerchor hervorragend ausgebildete Stimmen haben Amarcord Auszeichnungen bei internationalen Wettbewerben verschafft. Dieser Leistung konnte sich auch das Niddaer Publikum nicht entziehen.

 

Einfühlsame musikalische Textausdeutung gilt als Markenzeichen der Romantik. Doch die alten Meister pflegten diese Kunst schon Jahrhunderte zuvor. So der „Kantor der Reformation“ Johann Walter bei „Mitten wir im Leben sind“, stärker noch Johann Hermann Schein mit seinen „Sieben Wort ,Da Jesus an dem Kreuze stund‘“ mit der sanften Anrede an Johannes und die Mutter Maria, dem verhaltenen Aufschrei von „Warum hast Du mich verlassen?“. In Stefaninis „Christus resurgens“ legte Lattke mit Kopfstimme etwas von der Strahlkraft der Auferstehung, ehe nach verhaltenem Ensembleklang ein lebhaftes polyphones „Halleluja“ schloss. Feine unterschiedliche Stimmfarben waren beim Calvisius-Hymnus „Ades Pater supreme“ zu bewundern, ehe im Chorsatz „Viele werden kommen von Morgen und Abend“ von Heinrich Schütz mit einem Hauch barocker Theatralik die Freuden des Himmelreichs, das „Heulen und Zähneklappern“ der Verdammten geschildert wurde.

 

Die Sänger verteilten sich im Chorraum, setzten auf Raumwirkung und sangen die „Sequentia de St. Thoma Canthuariensi“ wieder mit Einzel- und Kleingruppenstimmen, in ihren unterschiedlichen Klangfarben durch die Folie des Bordun-Tons unterstrichen.

 

Was nicht vergessen werden darf: die hohe Identifikation der Amarcord-Sänger mit den Werken, die sie vortrugen. War dem ersten Teil berechtigter Stolz auf die reiche Kirchenmusiktradition mit dem Schwerpunkt Leipzig anzumerken, brachte das Quintett die Spirituals des zweiten Teils ebenso ausdrucksstark wie eigenständig. „Die eruptive raue Leidenschaftlichkeit farbiger Gospelsänger können wir nicht authentisch wiedergeben. Die Spirituals wurden eigens unter Einfühlung in ihre sprachliche und musikalische Welt, ihre Freiheitssehnsucht für uns arrangiert, das call and response-Prinzip zwischen Vorsänger und Chor haben wir in Abwandlung beibehalten“, erklärte Daniel Knauft im Nachgespräch.

 

So erklang „Steal away“, mit Moll-Akkorden, verhaltenen Dissonanzen das klagende „I’ve been in the storm so long“ und dann zwischen Sehnsucht und Glaubensgewissheit „I want to cross over“ und „Swing low“. Schließlich gab es noch eine musikalische Reise mit Folksongs: aus dem „liederreichen Lettland“ die Ballade eines Mannes, der seine ihm verweigerte Braut raubt, mit Summ- und Silbenchor und kräftigem mehrstimmigem Schluss. Lautmalerisch mit Eisenbahngeräuschen war „900 Miles“ aus den USA zu hören und als freundschaftlichen Gruß an Willi Becker, der zum Zustandekommen auch dieses Konzertes beigetragen hatte, ein südamerikanisches Lied. Beim letzten Stück sang das Publikum mit und gab mit Bravorufen und rhythmischem Klatschen keine Ruhe, bis es Zugaben gab.

  • STICHWORT
    Alle Amarcord-Sänger sind aus dem traditionsreichen, 1212 gegründeten Leipziger Thomanerchor hervorgegangen. Schon im Kindesalter kommen begabte Jungen dort ins Internat und erleben bis zum Abitur die Vielfalt von Chormusik. Während des Stimmbruchs bleiben sie in der Chorgemeinschaft, führen andere Aufgaben aus und bekommen behutsame, individuelle Stimmschulung zur Begleitung des Übergangs. Gerade die älteren, ehemaligen Thomaner hätten noch zu DDR-Zeiten den Chor als Insel erlebt, wo der Druck zur Linientreue eine weniger große Rolle spielte, erläuterte Daniel Knauft am Rande des Konzertes. „Wir haben gute Erinnerungen an die Thomanerzeit!“ (em)