SCHOTTEN

Hildegunde Boller arbeitet seit 30 Jahren mit Schottener Kindern und Jugendlichen

Foto: Gert Holle
Foto: Gert Holle

Von Elfriede Maresch

 

(SCHOTTEN/em) - Die Sozialpädagogin Hildegunde Boller hat dem Rosenstock mit den weißen Blüten einen sonnigen Platz auf ihrem Balkon gegeben, schließlich hat er für sie eine besondere Bedeutung. Es ist eine Luther-Rose aus einem Steinfurther Traditionsbetrieb, ein Geschenk zu Bollers 30-jährigem Dienstjubiläum in der evangelischen Kirchengemeinde Schotten. Dekanin Sabine Bertram-Schäfer hatte damit Hildegunde Boller namens der Dekanatsgremien für ihre kreative und engagierte Arbeit gedankt. In diesen 30 Jahren haben sich Angebote in der Kinder- und Jugendarbeit geändert, neue Aufgaben sind hinzugekommen. Der Kreis-Anzeiger hatte Gelegenheit zum Gespräch mit Hildegunde Boller.

 

Kreis-Anzeiger: Frau Boller, Sie sind 1961 im rheinhessischen Gau-Odernheim geboren. Wie kamen Sie zur kirchlichen Gemeindepädagogik?

 

Hildegunde Boller: Ich bin schrittweise hinein gewachsen. Ich komme aus einer kirchlichen Familie, habe nach der Konfirmation im Team des Kindergottesdienstes mitgemacht, war im Jugendkreis, habe erlebt, wie der Dekanatsjugendreferent die Vertretung der Jugendlichen im Dekanat initiiert hat. Ebenso hat er das Arbeitsgebiet Ferienfreizeiten organisiert. Als Ehrenamtliche war ich bei der ersten Kinderfreizeit auf Burg Hohensolms mit dabei - drei Wochen lang. Das war gleich die Rundum-Erfahrung, was Kinder auf Freizeiten umtreibt: Heimweh, Streit mit der besten Freundin, Versöhnung, aufgeschlagene Knie, verschwundenes Lieblingskopfkissen...

 

Und trotzdem haben Sie sich für dieses Berufsfeld entschieden?

 

Gerade deshalb! Nach der Schule habe ich erst ein Jahr gejobbt, aber ich war mir sicher: Ich will in den sozialen Bereich. Ich habe mich sehr gefreut, als ich einen Studienplatz an der Evangelischen Fachhochschule für Sozialpädagogik in Darmstadt bekam. Das Studium war fachlich und menschlich eine ganz intensive Zeit für mich. Ich hatte anregende Kontakte mit anderen Studierenden, zum Teil sind lebenslange Freundschaften daraus geworden.

 

Wie hat es Sie aus Darmstadt in den Vogelsberg verschlagen?

 

Erst kam das Anerkennungsjahr, das ich in der Fachabteilung des Amtes für Jugendarbeit absolviert habe. Das war eher Organisation und Büroarbeit, hat nicht den direkten Kontakt geboten, den ich eigentlich suchte. Durch Verbindungen des damaligen Schottener Gemeindepfarrers Alfred G. Beierle habe ich von der offenen Stelle dort gehört und mich beworben. Beim Vorstellungsgespräch saß ich mit einem Mitbewerber im Vorzimmer, er in piekfeinem Anzug, ich in Jeans. Ich habe die Stelle bekommen - offensichtlich haben die Jeans nicht gestört. Am 1. Juni 1988 habe ich meinen Dienst in Schotten begonnen.

 

Damals gab es noch kein Dekanatsjugendhaus, kein Sportfeld, keine Verbindungen zu den Schulen...

 

Nein, die Strukturen waren nicht so günstig wie heute, aber wir hatten immerhin ein angemietetes Jugendhaus, das heutige Haus der Diakoniestation. Für einen kleinen Kreis von Kindern habe ich damals schon Hausaufgabenhilfe angeboten. Weiter gehörten Kindergruppen, Kindergottesdienst, Konfirmandenunterricht sowie der Jugendkreis zu meinen Aufgaben. Ganz wichtig war das Gewinnen von Ehrenamtlichen, meist aus dem Kreis der Jugendlichen. In guter Erinnerung habe ich aber auch die Mütter, die bei der Gestaltung des Kindergottesdienstes aktiv waren und ich bedaure, dass dieses Angebot im Moment ruht.

 

Konnten Sie neue Arbeitsformen nach dem Motto "Passgenau für Familien" entwickeln?

 

Ja, zum einen sind das die Ferienangebote, damals noch in weit kleinerem Rahmen als heute und sowohl an Osten wie auch in den Sommerferien, die von der Stadt Schotten unterstützt wurden. Zum anderen sind es die Ferienfreizeiten. Ich erinnere mich an eine Freizeit 1989 in der Schweiz, als wir uns mit einer Gruppe aus Schottens Partnerstadt Maybole getroffen haben. Die Verständigung war spannend, englische, oberhessische, hochdeutsche und gälische Satzfetzen flogen durcheinander. Wenn gar nichts mehr ging, wurde mit Händen und Füßen gefuchtelt.

 

Es wurden schon Segel-, Reit-, Abenteuerfreizeiten, Fahrten ins Ausland, nach England, nach Skandinavien angeboten, Fahrten im Gruppenkonsens unter dem Motto "Der Weg ist das Ziel". Ich freue mich, dass Dekanatsjugendreferent Christian Leibner und wir anderen Hauptamtlichen aus der Jugendarbeit unser Freizeitangebot immer mehr nach verschiedenen Alters- und Interessengruppen ausrichten können. Die Nachfrage zeigt, dass sich das bewährt.

 

In den 90er-Jahren zogen immer mehr Neubürger in die Residenz am Stausee.

 

Ja, damit kam eine neue Aufgabe auf die evangelische Kirchengemeinde zu. Die Spätaussiedler aus den ehemaligen Ostblockländern kamen in ein ganz anderes gesellschaftliches Umfeld, brauchten Beratung, suchten in der Kirchengemeinde eine neue Heimat. Ich habe damals eine Kindergruppe in der Residenz angeboten, habe eng mit Isolde Steinke vom Diakonischen Werk zusammengearbeitet, gemeinsame Freizeiten für Kinder von einheimischen und Aussiedlerfamilien angeboten. Ehrenamtliche waren im Einsatz, Ilse Neumann hat sich sehr engagiert um die Senioren in der Residenz gekümmert. Damals entstand der Arbeitskreis Aussiedler in Zusammenarbeit von Kommune und Kirche, der sich über Jahre zum heutigen Netzwerk Kinder- und Jugendarbeit in Kooperation mit der in Schotten ansässigen Jugendeinrichtung Fa-Ju-So entwickelt hat.

 

1996 war ein besonders arbeitsintensives Jahr für Sie?

 

Auf jeden Fall. Ein Jahr zuvor war unter anderem auf Initiative von Hans Joachim Adolph die leer stehende Schottener Jugendherberge gekauft und umgebaut worden. 1996 konnten wir sie beziehen und einrichten. Die zweite Erholungsgruppe der weißrussischen, strahlengeschädigten Kinder kam nicht mehr nach Ulrichstein, sondern ins neue Dekanatsjugendhaus. Zusammen mit den Ehrenamtlichen der Tschernobyl-Initiative hatten wir genug zu tun, den Kindern ebenso erholsame wie unterhaltende Wochen zu bieten. Außerdem begann die schulformbezogene Jugendarbeit in einer Mischfinanzierung von Kirche, Stadt und Vogelsbergkreis. Aus der ehemaligen Spiel- und Lernstube, die ich führte, wurde das Schülercafé. Ab und zu halfen Lehrkräfte mit, aber oft war ich alleinige Ansprechperson für 25 Kinder, teils im Spielbereich, teils in der Hausaufgabenbetreuung - das ginge heute gar nicht mehr.

 

Warum nicht? Haben sich die Kinder in Ihren 30 Dienstjahren so verändert?

 

Ja, diese Erfahrung teile ich mit meinen Kolleginnen. Die Kinder von heute brauchen mehr klare Regeln, die konsequent eingehalten werden müssen. Früher waren die Kinder selbstgesteuerter, haben sich leichter getan damit, auf andere Rücksicht zu nehmen, Konflikte ganz niedrigschwellig mit Worten auszutragen und selbstständig einen Kompromiss zu finden. Vielleicht sind viele Eltern durch Beruf, Pendeln, Hausarbeit zu überlastet oder sie gehen den Weg des geringsten Widerstandes und lassen die Kinder machen, was sie wollen. Nur: Den Umgang mit sozialen Spielregeln müssen Kinder unbedingt lernen. Und es ist leichter für sie, wenn sie das von klein auf in der Familie einüben. Viele Eltern schätzen es aber, dass wir auf Regeln und gleiche Verteilung der Pflichten Wert legen. "Ich kann in Ruhe arbeiten gehen, denn ich weiß, mein Kind ist bei Ihnen gut behütet" - über diesen Brief einer Mutter habe ich mich sehr gefreut!

 

Ist durch die schulbezogene Jugendarbeit (SBJA) Kooperation zwischen Dekanatsjugendhaus und Schule entstanden?

 

Auf jeden Fall! Zusammen mit meinen beiden SBJA-Kolleginnen Silke Weiser und Susanne Eiser empfinde ich die Zusammenarbeit mit den Lehrkräften als gut. Ein großes Problem ist allerdings die enge Befristung der SBJA-Stellen. Gute Kräfte sind abgewandert, wenn sie die Chance auf unbefristete Arbeitsplätze hatten.

 

Kinder aller drei Schottener Schulformen nehmen an unseren Gruppen, den Nachmittagsangeboten, den Wochenend- und Ferienfreizeiten teil. Wie es bei Kindern ist: Es gibt Streit und Versöhnung, enge Freundschaften entstehen und manche können überhaupt nicht miteinander und gehen sich besser aus dem Weg. Aber es entsteht ein "Wir aus der Großgemeinde Schotten"-Gefühl, in das auch teilnehmende Flüchtlingskinder einbezogen sind. Und das erscheint mir ein gutes Element gegen Ausgrenzung. Die Breite unseres Angebotes ist wichtig. In der sportlichen Erlebnispädagogik, bei kreativen Tätigkeiten beobachten wir, dass manchmal Kinder und Jugendliche zur Hochform auflaufen, die sich in der Schule eher schwertun, zunächst auch in den Gruppen nicht gerade die Stars sind. Die wachsende Anerkennung durch die Gleichaltrigen tut ihnen sehr, sehr gut!

 

Das klingt nach Harmonie, nach Idyll...

 

(lacht) Überhaupt nicht! Die Kinder und Jugendlichen, die zu uns kommen, sind, wie sie sind: manchmal schlecht gelaunt und motzig, manchmal auf Streit gebürstet, manchmal testen sie ihre und unsere Grenzen aus. Dann sind sie wieder begeisterungsfähig und voller Einfälle bei den Projekten dabei. Sehr wichtig für unsere Arbeit ist, dass wir drei Kolleginnen uns einig sind, dass wir für konflikthafte Situationen, für den Umgang mit Kindern in Krisen einvernehmliche Lösungen finden.

 

Wir sehen an den Jugendlichen, die als ehrenamtliche Betreuer in die Arbeit hineinwachsen, wie sie sich entwickeln, selbstbewusster, verantwortungsbereiter, auch konfliktfähiger werden.

 

Sie haben einmal die Kinder und Jugendlichen, die zu Ihnen kommen, als "anstrengend, aber liebenswert" charakterisiert. Wie regeneriert sich eine gestresste Gemeindepädagogin?

 

(lacht) In einem großen, oft schon langjährigen Freundeskreis. Und beim Lesen, ich bin Krimi-Fan von Kommissar Kluftinger bis Sherlock Holmes. Gern lese ich Spannendes mit einer Prise Urlaubsflair dabei, zum Beispiel die Bretagne-Krimis.

 

Seit 17 Jahren sind Sie in der Mitarbeitervertretung aktiv.

 

Die Interessen der Kolleginnen und Kollegen zu vertreten, ist mir wichtig. Ich gehöre jetzt in der fünften Wahlperiode der MAV an.

 

Sie haben sich vor 30 Jahren bewusst bei der Kirche beworben. Was sind die speziell kirchlichen Elemente Ihrer Arbeit?

 

Wir bieten den Kindern und Jugendlichen selbstverständlich Elemente christlicher Botschaft an, ihrem Alter entsprechend: Tageseinstieg, Andacht, Kinderbibeltag, selbst gestaltete Jugendgottesdienste. Sie spüren, dass wir selbst den Glauben als hilfreich in unserem Leben empfinden. Für viele ist das Dekanatsjugendhaus ein zweites Zuhause!