Der große Bildschirm zeigt einen menschenleeren Strand, nur Wasser und Felsen, alles ein bisschen grau. Schroffe Schönheit oder trostlose Öde? Es kommt auf den Betrachter an, sagt Pfarrer Christian Wiener. Er ist der dritte Referent in der Veranstaltungsreihe zum Thema Einsamkeit des Evangelischen Dekanats Büdinger Land. Wiener, Referent für Altenseelsorge im Zentrum für Seelsorge und Beratung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), bringt die Perspektive Theologie ein. „Zwischen Einsamkeit und Alleinsein – Wie sich zwei Aspekte ergänzen und abgrenzen“ ist sein Vortrag im Margaretha-Pistorius-Haus in Nidda überschrieben. Das Bild des leeren Strandes und seine ambivalente Wirkung stehen sinnbildlich dafür.
Wer allein ist, muss nicht einsam sein. Andererseits, erzählt Wiener aus seiner Berufserfahrung als Altenheimpfarrer, „kann man in einer Einrichtung mit Hunderten anderer Menschen unglaublich einsam sein“. Phasen der Einsamkeit gehören zum Menschenleben, jeder habe sie schon erlebt, so der Referent. Denn der Mensch sei ein soziales Wesen mit dem Bedürfnis nach Nähe und Beziehung. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“ (1 Mose 2,18), zitiert er aus der Bibel.
Als eindrückliches biblisches Zeugnis menschlicher Einsamkeit und Verzweiflung trägt er Psalm 88 vor: „Meine Freunde hast du mir entfremdet, du hast mich ihnen zum Abscheu gemacht. Ich liege gefangen und kann nicht heraus“. Der Psalmist beschreibt das Gefühl völliger Verlassenheit, er fühlt sich von Gott und von allen Menschen getrennt. Der Text endet nicht mit Trost, sondern bleibt in der Verzweiflung: „Meine Freunde und Nächsten hast du mir entfremdet, und mein Vertrauter ist die Finsternis.“ Heute, sagt eine Frau im Publikum, würde man das wohl Depression nennen.
Wiener arbeitet mit Bildern, Texten – und Pausen. Er bezieht seine aufmerksamen und diskussionsfreudigen Zuhörerinnen in den Vortrag ein, gibt Denkanstöße, stellt Fragen und lädt zum Nachdenken ein. Daraus entwickeln sich Dialoge, aus denen die Vielschichtigkeit von Einsamkeit, die Schwierigkeit, sie zu erkennen, aber auch die Abgrenzung zum Alleinsein hervortreten: Alleinsein als ein objektiver Zustand, Einsamkeit als ein subjektives, schmerzhaft empfundenes Gefühl mit unterschiedlichen Ausprägungen – das Fehlen einer vertrauten Person und körperlicher Nähe, das Fehlen von Freunden und Gruppen, das Getrennt-sein von allem und jedem … Einsamkeit, betont der Theologe Wiener, hat schwerwiegende Folgen, nicht nur gesundheitlich, sondern auch für die Gesellschaft. So sei es erwiesen, dass Menschen, die sich einsam fühlen, weniger Vertrauen in politische Institutionen hätten.
Christian Wiener vergleicht Einsamkeit mit einem Hunger- und Durstgefühl. Wer glaubt, habe einen starken Resilienzfaktor (Jesus bezeichnet sich als „Brot des Lebens und lebendiges Wasser“). Das Vertrauen auf Gottes Nähe könne das innere Erleben von Verlassenheit mildern, auch wenn real wenig sozialer Kontakt vorhanden sei.
Als Beispiel erwähnt er Antonius (circa 251–356), den „Urvater des mönchischen Alleinseins“. Antonius zieht sich freiwillig in die Wüste zurück, hat keine Beziehungen zu Menschen, keine Gruppenzugehörigkeit, keine körperliche Nähe. Er erlebt Einsamkeit, Alleinsein und Anfechtung und wird doch durch seinen Glauben gestärkt. „Sein Leben in der Askese gelingt, weil Antonius von Gott getragen wird“, so der Referent. Auch in tiefster Einsamkeit sei Nähe zu Gott und innere Erfüllung möglich. Während Psalm 88 die bedrückende Erfahrung von Einsamkeit und das Gefühl göttlicher Abwesenheit beschreibt, zeigt Antonius’ Leben, dass Abgeschiedenheit zugleich Raum für Gottes Gegenwart sein kann.
Christian Wieners Vortrag macht deutlich, dass Glaube in Einsamkeit Kraft und Orientierung geben kann. Dann wäre Einsamkeit nicht nur als Defizit zusehen, sondern auch als Raum für Reflexion und spirituelle Erfahrung. Gleichzeitig wirft das die Frage auf, welche Quellen von Nähe, Trost und innerer Stärke Menschen offenstehen, die keinen Glauben haben.