Die Massentötung in Hirzenhain vom 26. März 1945

von Tobias Stolte

In Hirzenhain bestand ab 1943 ein sogenanntes „Arbeitserziehungslager“ (abgekürzt „AEL“). Dieses war an das „Arbeitserziehungslager“ Heddernheim der Frankfurter Gestapo (Geheimen Staatspolizei) angeschlossen, welche von SS-Sturmbannführer Reinhard Breder geleitet wurde.

 

Das „AEL“ Hirzenhain verfolgte den Zweck, der dortigen Rüstungsindustrie, das heißt den der Buderus AG zugehörigen Breuer Werken, Zwangsarbeiterinnen zuzuführen. In Hirzenhain wurden unter anderem Teile des Panzerkampfwagens VI, des sogenannten „Tiger“-Panzers, gefertigt.

 

Für die Breuer-Werke arbeiteten in Hirzenhain Zwangsarbeiterinnen aus den im Osten von Deutschland besetzten Gebieten. Dies waren verschleppte Frauen aus Polen, der Sowjetunion, aber auch aus Italien, Belgien oder den Niederlanden.

 

In den letzten Kriegswochen befand sich das „AEL“ Hirzenhain in einer chaotischen Übergangsphase und sollte am 26. März 1945 zum Schauplatz einer weltanschaulich motivierten Massentötung werden. Diese wurde von NS-Tätern verantwortet und ausgeführt, die bereits in den sogenannten Einsatzgruppen der „Sicherheitspolizei und des SD“ Massenmorde hinter der vorrückenden Ostfront begangen hatten. Im heimatlichen Hirzenhain findet also ein solches nationalsozialistisches Mordgeschehen statt, wie es an Millionen von vor allem jüdischen Opfern in den östlichen Kriegsgebieten verübt worden war.

 

Für den Fall der Verschiebung der Front in die Heimat waren seit Längerem sogenannte „Alarmfall“-Planungen vorbereitet worden. Diese lagen auch für den über 50 Mann starken Stab des „Befehlshabers der Sipo und des SD-Rheinland-Westmark“ unter dem gefürchteten SS-Oberführer und Oberst der Polizei Dr. Hans Trummler vor. Dieser war in Wiesbaden stationiert und sollte sich im März 1945 vor der vorrückenden US-Armee ins AEL Hirzenhain zurückziehen.

 

Trummler war Inspekteur der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes und in der Ausübung seiner Amtsgewalt relativ unabhängig. Dieser Personenkreis fühlte sich auch ohne Weiteres zu Massentötungen berechtigt, zum Beispiel am 26. März 1945 in Hirzenhain.

 

Zur Vorbereitung der Übernahme des AEL Hirzenhain durch Trummlers Stab gelangte ab Mitte März eine Vorbereitungsgruppe unter SS-Hauptscharführer Emil Fritsch nach Hirzenhain. Am 23. März schließlich traf Trummlers Adjutant, der SS-Hauptsturmführer und Kriminalkommissar Anton Wrede in Hirzenhain ein und übte ab diesem Zeitpunkt im AEL Hirzenhain die Kommandogewalt aus. Bereits am 22. März hatte Trummler den Frankfurter Gestapo-Chef Reinhard Breder instruiert, das Lager aufzulösen, damit er es in Besitz nehmen konnte.

 

Zwischen dem 23. und 24. März wurden zusätzliche 44 Frankfurter Gestapo-Verschleppte nach Hirzenhain transportiert (fünf Frauen gelang zuvor die Flucht). Diese Verschleppten mussten im nahen Wasserturm übernachten, weil das Lager kaum mehr aufnahmebereit war. Jetzt entschieden die SS-Verantwortlichen vor Ort, einzelne Frauen des Lagers zu entlassen, andere aber zu selektieren und zu ermorden.

 

Zur Vorbereitung dieses Massenmords mussten am 25. März nachmittags sechs männliche Lagerhäftlinge einen knappen Kilometer nördlich Richtung Glashütten eine größere Grube ausheben, die öffentlich bemerkt wurde.

 

Am 26. März frühmorgens wurden an dieser Grube unter persönlicher Tatbeteiligung von Emil Fritsch die aus Frankfurt verschleppten Frauen und weitere Lagerinsassinnen und -insassen, insgesamt 87 Personen, erschossen. Dies waren 76 Frauen, elf Männer, darunter jene sechs Männer, die die Grube ausgehoben hatten. Anton Wredes Meldung an Trummler – „Die Angelegenheit mit den Russenweibern ist erledigt“ – zeugt von der menschenverachtenden Selbstermächtigung dieser Täter. Kurze Zeit später ist Trummler selbst in Hirzenhain eingetroffen, verließ mit seinem Stab den Ort aber kurz danach wieder. 

 

Die Geschichte der Erinnerung an den Massenmord und die juristische Auseinandersetzung sowie die Geschichte des Umgangs mit den sterblichen Überresten der Ermordeten ist schwierig. 1951 konnte, auch aufgrund der damaligen Auslegung des Mordparagraphen, nur der unmittelbar beteiligte Wachoffizier Fritsch wegen Mordes verurteilt werden. Alle Verfahren gegen weitere Beteiligte wurden eingestellt, da es ihnen gelang, die Schuld auf den bereits 1948 wegen weiterer Morde hingerichteten Vorgesetzen Trummler abzuwälzen.

 

Die Identifizierung der meisten Opfer des Massenmords in Hirzenhain gelang nicht. Nach der Exhumierung der sterblichen Überreste durch die US-Armee 1945 und dem Versuch einer juristischen Auseinandersetzung mit den Tätern gestaltete sich die Erinnerungsarbeit als sehr schwierig. Das ehemalige Gedenkkreuz, das innerorts von Hirzenhain stand, steht heute an dem Ort der Massentötung. Die sterblichen Überreste der Mordopfer wurden mehrfach umgebettet und schließlich, im neu geschaffenen Gedenkhof des ehemaligen Klosters Arnsburg bestattet – Seite an Seite mit Angehörigen der Tätergruppen.

 

Festzuhalten ist: Die Verantwortlichen in Hirzenhain mordeten nicht zufällig. Sie waren nationalsozialistisch ideologisierte Täter, die zuvor in Massentötungen durch Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei beziehungsweise des SDs hinter der Ostfront aktiv beteiligt gewesen waren. 

 

Namentlich zu nennen sind zum Beispiel Reinhard Breder: Der Volljurist Breder war Leiter der Frankfurter Gestapo ab August 1943 und zuvor zwischen 1941 und 1943 Leiter des Einsatzkommandos 2 der Einsatzgruppe A. Diese ist verantwortlich für Massenexekutionen an jüdischen Menschen hinter der  Front der Heeresgruppe Nord im Baltikum.

 

Dr. Hans Trummler war zunächst Leiter von Polizeiausbildungsstätten und dann Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD, schließlich Leiter der sogenannten „Kampfgruppe Trummler“.

 

Sein Adjutant Anton Wrede war zuvor an Massenmorden in Rumänien aktiv beteiligt gewesen.

 

Der 1951 verurteilte Täter Emil Fritsch arbeitete zum Beispiel in Polen (Krakau) und von August 1942 bis September 1943 für die Gestapo in Brest-Litowsk in Weißrussland.

 

Diese Männer nahmen sich das Recht, Menschen zu ermordeten. Im Zuge der Endphase des NS-Staates verlagerten sich diese Massentötungen in die Heimat und die Täter ermächtigten sich, die im Osten eingeübten Methode der Massenmorde hier weiterzuführen.