Die vermeintliche „Stunde Null"

von Tobias Stolte

Gab es am Kriegsende so etwas wie die Möglichkeit, radikal neu zu beginnen? Dies ist gemeint, wenn jemand die Metapher von der „Stunde Null“ verwendet.

 

Mit dem 8. Mai 1945 verbanden sich unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg völlig einander widersprechende Erinnerungen. Befreit fühlten sich keinesfalls alle Deutschen.

 

Als Befreiung erlebten die Opfer des Nationalsozialismus diesen Tag, Befreiung b-deutete aber noch nicht die sichere Chance auf Überleben: Viele derjenigen, die die Todesmärsche und die Konzentrationslager überlebt hatten, starben entkräftet trotz Versorgung noch in den Wochen nach ihrer Befreiung. Auch die unterdrückten Nationen in Europa erlebten die Maitage als Befreiung. Das Sterben im Krieg in Europa war vorbei.

 

Aber nicht wenige Deutsche empfanden – und einige bis heute – den 8. Mai 1945 als Niederlage, beklagten die Besetzung des Reichsgebietes durch alliierte Truppen, die deutschen Kriegsopfer und den verlorenen Krieg. Vergessen wurde aber dabei, dass es das nationalsozialistische Deutsche Reich gewesen ist, das den Zweiten Weltkrieg verursacht und bis zuletzt als Aggressor brutal geführt hat.

 

Wegen dieser Unterschiede in der Erinnerung an das Kriegsende ist es äußerst schwierig, von einer sogenannten „Stunde Null“ zu sprechen. Hätte es eine „Stunde Null“ gegeben, hätte sie einen voraussetzungslosen Neuanfang für alle bedeutet, wenn auch viele angesichts des Elends auf die Möglichkeit eines Neuanfangs hofften. Doch können weder das Leid der Opfer noch die Untaten der Täterinnen und Täter, das Schweigen oder Zuschauen anderer, noch die fehlende juristische Aufarbeitung ungeschehen gemacht werden.

 

Auch hat die Ideologie des Nationalsozialismus in den Köpfen vieler Deutschen überdauert, zum Beispiel in Erziehungsfragen. Wie hätte es unter diesen Bedingungen eine „Stunde Null“ geben können?

 

In einer historischen Rede zum Gedenkort des 8. Mai thematisierte im Jahr 1985 der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker im Deutschen Bundestag das Kriegsende und die deutsche Verantwortung. Es lohnt sich sehr, von Weizsäckers Rede heute wieder zu lesen.