Das Grauen vor der Haustür

Gedenkveranstaltung des Dekanats und der Gesamtschule Konradsdorf zum Kriegsende vor 80 Jahren

15. Juni 2025

Opferzahlen, die in ihrer Monstrosität kaum zu fassen sind, und ein Appell an die Verantwortung eines jeden Menschen für Frieden und Demokratie – das ist die Klammer um die Gedenkveranstaltung „80 Jahre Kriegsende in der Wetterau“, zu der das Evangelische Dekanat Büdinger Land und die Gesamtschule Konradsdorf jetzt in der Niddaer Stadtkirche eingeladen hatten. Pfarrer Alexander Starck und Pfarrer i.R. Konrad Schulz begrüßten zu dieser Veranstaltung, die durchaus ein größeres Publikum verdient gehabt hätte.

 

Der Zweite Weltkrieg, der in Europa am 8. beziehungsweise 9. Mai 1945 mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht endete, fand auch in unseren Dörfern statt. „Wir leben definitiv nicht in einer Gegend, in der vor 80 Jahren ,nichts Besonderes los war'“, zitiert Lehrer Holger Lux den Untertitel einer lokalen Gedenkschrift aus dem Jahr 1985. Die teils erschütternde Schilderung der letzten Kriegstage in Glauberg und des Massenmordes an 76 Frauen und elf Männern in Hirzenhain durch SS-Angehörige stehen im Mittelpunkt der Veranstaltung.

 

Im Wechsel berichten Schülerinnen und Schüler der Konradsdorfer Oberstufe die Ereignisse in jenen März- und Apriltagen 1945: Am Glauberg starben am 2. April 1945 14 Soldaten bei heftigen Gefechten zwischen Soldaten der 6. SS-Gebirgs-Division „Nord“, die auf dem Vormarsch Richtung Osten war, und einer amerikanischen Einheit. Der Glauberg verwandelte sich in ein „zerschossenes Schlachtfeld“. Bis ins Jahr 2005 wurden in den Wäldern Sprengköpfe gefunden.

 

Aber, sagt Lehrerin Antje Salatzkat, „die Geschichte des Kriegsendes in unserer Region ist nicht erzählt, wenn wir den Blick einzig auf militärische Auseinandersetzungen richten“. Während sich die Strukturen des nationalsozialistischen Regimes auflösten, sei es überall im Reich zu einer Gleichzeitigkeit von Ereignissen gekommen: lokalen Kapitulationen, militärischen Auseinandersetzungen und sogenannten „Endphaseverbrechen“ wie der Massenmord in Hirzenhain.

 

Dort nahmen sich am 26. März 1945 nationalsozialistisch ideologisierte Täter, die zuvor in Massentötungen durch Einsatzgruppen der „Sicherheitspolizei bzw. des SDs“ hinter der Ostfront aktiv beteiligt gewesen waren, das Recht, Menschen zu ermorden. Die Meldung des Adjutanten Anton Wrede, der zuvor an Massenmorden in Rumänien beteiligt war, an seinen Vorgesetzten – „Das mit den Russenweibern ist erledigt“ – zeuge von der „menschenverachtenden Selbstermächtigung dieser Täter“, sagt der Lehrer Tobias Stolte.

 

Vor diesem Hintergrund stelle sich die Frage, ob es nach dem Kriegsende die Möglichkeit gab, radikal neu zu beginnen – eine „Stunde Null“, so Stolte weiter. Nicht wenige Deutsche hätten den 8. Mai als Tag der Niederlage empfunden, einige bis heute. Vergessen wurde aber dabei, dass es das nationalsozialistische Deutsche Reich gewesen ist, das den Zweiten Weltkrieg verursacht und bis zuletzt als Aggressor brutal geführt hat." Wegen dieser Unterschiede in der Erinnerung an das Kriegsende sei es schwierig, von einer sogenannten „Stunde Null“ zu sprechen. Weder das Leid der Opfer noch die Untaten der Täterinnen und Täter, das Schweigen oder Zuschauen anderer, noch die fehlende juristische Aufarbeitung könnten ungeschehen gemacht werden.

 

Der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat in einer berühmten Rede anlässlich des 40-jährigen Kriegsendes 1985 den 8. Mai erstmals als „Tag der Befreiung" bezeichnet. Deutschland habe mit dem Ende des Krieges die Chance zu einem Neubeginn bekommen, sagt Schulleiterin Birgit Bingel und zitiert einen Appell aus von Weizsäckers Rede: „Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Hass gegen andere Menschen.“

 

Von dem „Umfassenden Frieden – Shalom“ in der Bibel sprechen die beiden Theologen Rainer Böhm und Hans Hamrich: „in einem Umfang, den wir uns kaum vorstellen können. So, dass alle genug haben für ein gutes Leben.“ Das hebräische Wort Schalom sei an sich ein bescheidenes Wort: Sich begnügen – genug haben. „Das kann erleichtern. Einfach jetzt und hier beginnen, Schritt für Schritt, nicht gleich die ganze Welt retten müssen. Suchen, was dem Frieden dient. Meinem, deinem, dem der Erde“, so Rainer Böhm. Hans Hamrich ergänzt Friedensbilder, entworfen von den Propheten: Der Wolf wohnt beim Lamm, Kalb und Löwe grasen gemeinsam, der Löwe frisst Stroh wie das Rind … Eine Vision, die beim Blick auf die heutige Welt unerreichbar scheine. „Shalom – das ist schwer zu erreichen. Aber jeder kleine Schritt zu mehr Shalom ist gut.“

 

Mit den Worten „Ich bin ein Kind des Friedens" beginnen die Gedanken von Maria-Louise Seipel, Referentin für Gesellschaftliche Verantwortung im Dekanat Büdinger Land. Die Welt, in der sie, Jahrgang 1994, aufwuchs, habe Sicherheit, Wohlstand und Freiheit versprochen: „Reisen ohne Passkontrollen, Studieren im Ausland, eine gemeinsame Währung – all das wurde zur Selbstverständlichkeit", so Maria-Louise Seipel. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 wisse sie: „Zwischen mir und dem Krieg liegt nur ein Land." Sie endet mit einem Appell: „Die sogenannte Gnade der späten Geburt entlastet nicht von Verantwortung. Im Gegenteil: Sie verpflichtet – gerade weil wir sie haben."

 

Musikalisch gestaltet wurde die Veranstaltung von Tyron Unger an der Orgel, Louis Waldschmidt am Klavier und Hannah Finke auf der Gitarre. Die Kollekte ist bestimmt für UNICEF, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen.

 

Mitwirkende Schülerinnen und Schüler: Celine Balzar, Lilly Sophie Freymann, Jannis Geyer, Tessa Götz, Felix Gottschalk, Linnéa Grace Hain, Russlana Hoffmann, Lorenzo Jakobi, Azra Karpuz, Burak Koca, Lena Komm, Lia Sophie Koob, Violetta Malanova, Bernice Maria Monica Mehrling, Lilly Sperling, Alessandro Vitale, Max Weißbrod und Jonas Winter. (jub)


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