von Maria-Louise Seipel
Ich bin ein Kind des Friedens.
In diesem Glauben bin ich groß geworden.
Ich bin 1994 in Deutschland geboren.
Wer in diesem Jahr zur Welt kam, wuchs auf in einer Zeit relativer Stabilität, mit offenen Grenzen und dem Versprechen europäischer Verständigung. Die großen Kriege des 20. Jahrhunderts waren Geschichte.
Der Kalte Krieg war vorbei, die Mauer gefallen, Europa wuchs zusammen.
Die Europäische Union galt meiner Generation als Friedensprojekt – und als Versprechen: auf Sicherheit, Wohlstand und Freiheit. Reisen ohne Passkontrollen, Studieren im Ausland, eine gemeinsame Währung – all das wurde zur Selbstverständlichkeit.
In einer Welt, in der Menschen Räume, Güter und Werte teilen, so die Hoffnung, wird aus dem Fremden ein Nachbar.
Bilder von Krieg gab es trotzdem: aus Syrien, dem Irak, Afghanistan. Doch sie blieben abstrakt, schienen weit weg.
Wer 1994 in Deutschland geboren wurde, kennt keinen Luftalarm, keine Einberufung, keine Flucht vor Bomben.
Der 24. Februar 2022 hat diese Sicht ins Wanken gebracht.
Seitdem weiß ich: Zwischen mir und dem Krieg liegt nur ein Land.
Der heutige Tag macht mir klar: Zwischen mir und dem Krieg liegt nur eine Generation.
So weit, wie ich immer geglaubt habe, ist der Krieg nicht von mir entfernt – weder zeitlich noch räumlich.
Die Schilderungen der letzten Kriegshandlungen in Oberhessen machen deutlich, mit welcher Brutalität der Krieg bis zum Schluss geführt wurde.
Sie zeigen: Die Gewalt war kein Unfall, kein Zufall – sie war geplant und gewollt.
Der Krieg endete 1945 mit der Einstellung der Kampfhandlungen.
Doch mit dem Waffenstillstand war nicht alles vorbei: Nicht das Leid, nicht die Erinnerung, nicht die Verantwortung.
Die Ideologie, die den Krieg getragen hatte, ist nicht aus den Köpfen verschwunden.
Nicht alles ist gesagt, nicht alles erinnert, nicht alles verstanden.
Und längst nicht alles ist gerecht.
Die sogenannte Gnade der späten Geburt entlastet nicht von Verantwortung.
Im Gegenteil: Sie verpflichtet – gerade weil wir sie haben.
Deutschland ohne Krieg – das gibt es nicht.
Nicht in der Geschichte. Nicht in der Erinnerung. Nicht einmal im Frieden.
Denn dieses Land ist aus Krieg hervorgegangen.
Der Name „Deutschland“ war lange Idee und nicht Einheit.
Die Reichsgründung 1871 war das Ergebnis von Krieg.
Die Weimarer Republik ein Nachkriegskonstrukt.
Die Bundesrepublik – gegründet nach dem Zivilisationsbruch der Shoah.
Die DDR – ein Produkt der Blockkonfrontation.
Die Wiedervereinigung wurde möglich durch das Ende dieser Blockkonfrontation.
Jede politische Form Deutschlands ist durch Krieg geprägt, von ihm bedingt oder durch ihn befreit worden.
Selbst der heutige Frieden steht nicht für ein Deutschland ohne Krieg, sondern für ein Deutschland nach dem Krieg – wachsam, beschämt, verpflichtend.
Ich bin ein Kind des Friedens. Aber ich bin auch eine Erbin des Krieges.
Ich habe keine Bombennächte erlebt, keine Heimat verloren, kein Gewehr getragen.
Aber ich lebe in einem Land, das all das verursacht hat.
Ein Land, das Grenzen überschritten hat – geografisch und vor allem moralisch.
Ein Land, das Millionen Menschen entrechtet, verfolgt und ermordet hat.
Mit dem Krieg endet nicht die Verantwortung.
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