21. August 2025
Einsamkeit beschreibt das Gefühl, keine tragfähigen sozialen Beziehungen zu haben – unabhängig davon, wie viele Menschen tatsächlich um einen herum sind. Symbolfoto: Hans-Jörg Ott/fundus-medien.de
„Perspektiven auf Einsamkeit“ heißt eine interdisziplinäre Veranstaltungsreihe des Evangelischen Dekanats Büdinger Land, die am 4. September startet. Impulse aus Soziologie, Psychologie und Theologie sollen helfen, Einsamkeit in ihrer Vielschichtigkeit besser zu verstehen. Ergänzt wird die Reihe durch einen Workshop, der praktische Ansätze zur Gestaltung von Begegnungsräumen vermittelt.
Einsamkeit betrifft längst nicht mehr nur Einzelne, sondern entwickelt sich zu einer gesellschaftlichen Herausforderung. Immer öfter wird sichtbar, wie stark das Thema Menschen bewegt. „Auch auf dem Land, wo angeblich jeder jeden kennt, zeigt sich: Gemeinschaft ist zwar erlebbar, aber nicht für alle“, sagt Maria-Louise Seipel, Referentin für Bildung und Gesellschaftliche Verantwortung, die diese Reihe entwickelt hat. Kirchengemeinden und Vereine hätten hier eine besondere Verantwortung, Räume der Begegnung offen und zugänglich zu gestalten.
Frau Seipel, gab es in den vergangenen Wochen einen Moment, in dem Sie gemerkt haben: Das Thema Einsamkeit ist hier bei uns gerade besonders wichtig?
Mir begegnet das Thema inzwischen an Orten, an denen ich es gar nicht erwartet hätte: in Fortbildungen, bei Teamsitzungen, selbst am Rande von Festen. Einsamkeit ist in vielen Bereichen präsent – nicht nur als individuelles Schicksal, sondern zunehmend auch als gesellschaftliche Herausforderung. Es wird salonfähiger, darüber zu sprechen, und die Sensibilität dafür nimmt spürbar zu. Für mich ist es inzwischen ein Querschnittsthema, das sich durch viele unserer Arbeitsfelder zieht – und es spielt auch im Umstrukturierungsprozess „ekhn2030“ eine Rolle, weil hier Fragen von Gemeinschaft, Teilhabe und sozialem Zusammenhalt zentral sind.
Auch Politik und Medien haben sich des Themas angenommen. Woran liegt diese Präsenz aus Ihrer Sicht?
Ich sehe dafür mehrere Gründe. Zum einen haben die Pandemie und ihre Folgen die Verletzlichkeit sozialer Beziehungen sichtbarer gemacht – viele Menschen haben erlebt, wie schnell Kontakte wegbrechen können. Zum anderen hat sich das öffentliche Bewusstsein verändert: Einsamkeit wird heute stärker als gesellschaftliche und gesundheitliche Herausforderung verstanden, nicht nur als privates Problem.
Sie beschäftigen sich beruflich mit Bildung und gesellschaftlicher Verantwortung – gibt es eine persönliche Erfahrung oder Beobachtung, die Ihnen zeigt, wie ernst das Thema Einsamkeit ist?
In meiner Arbeit zeigt sich immer wieder, dass Einsamkeit nicht an bestimmte Altersgruppen oder Lebenssituationen gebunden ist. Auffällig ist das besonders in ländlich geprägten Regionen wie unserer, wo die Wege weiter sind, Begegnungsräume seltener werden und eingeschränkte Mobilität den Zugang zu bestehenden Angeboten erschwert. Zwar gibt es hier noch viele funktionierende Vereine und stabile Nachbarschaften, doch immer wieder fallen Menschen durchs Raster. Diese Menschen bleiben oft unsichtbar.
Viele verbinden das Leben auf dem Land mit Gemeinschaft und Nähe. Wie zutreffend ist diese Vorstellung?
Das Bild vom Land als Ort, an dem jede und jeder jeden kennt, hat durchaus seine Berechtigung – viele Vereine, Nachbarschaften und kirchlichen Strukturen sind hier lebendig und tragen viel zur Gemeinschaft bei. Gleichzeitig erleben wir aber auch auf dem Land, dass Menschen keinen Anschluss finden. Dorfläden, Gasthäuser oder kleine Geschäfte, die früher selbstverständlich Kontakt ermöglichten, gibt es vielerorts nicht mehr. So kann eine Situation entstehen, in der Gemeinschaft und Nähe für viele erlebbar sind – aber eben nicht für alle.
Warum ist es so schwer zu erkennen, wenn jemand einsam ist?
Einsamkeit ist nicht dasselbe wie allein sein. Viele Menschen sind gern allein und schöpfen daraus Kraft. Einsamkeit dagegen beschreibt das Gefühl, keine tragfähigen sozialen Beziehungen zu haben – unabhängig davon, wie viele Menschen tatsächlich um einen herum sind. Sie ist ein subjektives Empfinden, das von außen oft nicht sofort zu erkennen ist. Besonders schwer sichtbar ist Einsamkeit, wenn sie mit anderen Faktoren verknüpft ist: Armut, psychische Erkrankungen, Sprachbarrieren, Fluchterfahrungen, der Verlust naher Angehöriger oder das Leisten umfangreicher Care-Arbeit. In solchen Situationen liegt der Blick von außen oft zuerst auf diesen offensichtlicheren Herausforderungen, sodass das Thema Einsamkeit leicht im Hintergrund bleibt. Am schwierigsten ist es, wenn Einsamkeit gar nicht mit sozialer Isolation verbunden ist. Menschen können äußerlich gut eingebunden wirken – im Vereinsleben, im Gottesdienst, im Alltag – und dennoch innerlich das Gefühl haben, nicht wirklich dazuzugehören.
Welche Möglichkeiten haben Kirchengemeinden und Vereine, um Einsamkeit vorzubeugen oder ihr zu begegnen?
Kirchengemeinden und Vereine haben einen großen Vorteil: Sie sind Orte, an denen Begegnung auf natürliche Weise stattfinden kann – generationenübergreifend, unabhängig von Herkunft oder sozialem Status. Dieses Potenzial lässt sich gezielt nutzen, um Einsamkeit vorzubeugen. Wichtig ist dabei, Angebote bewusst offen zu gestalten und Barrieren abzubauen: keine komplizierten Anmeldeverfahren, keine hohen Kosten, möglichst einfache Erreichbarkeit. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Haltung. Menschen spüren, ob sie willkommen sind – nicht nur in Worten, sondern auch in der Art, wie sie angesprochen, einbezogen und wahrgenommen werden.
Sie laden unter dem Titel „Perspektiven auf Einsamkeit“ zu drei Veranstaltungen ein. Was ist die Idee dahinter?
Die Veranstaltungsreihe knüpft an unterschiedliche fachliche Perspektiven an, weil Einsamkeit ein vielschichtiges Phänomen ist, das nicht monokausal erklärt oder mit einer einzelnen Maßnahme bearbeitet werden kann. Die Soziologie betrachtet Einsamkeit vor allem im Kontext gesellschaftlicher Strukturen und sozialer Teilhabe, die Psychologie rückt individuelle Wahrnehmung und emotionale Prozesse in den Vordergrund, und die Theologie öffnet den Blick für spirituelle und existenzielle Aspekte. Jede dieser Disziplinen beleuchtet andere Facetten, die sich gegenseitig ergänzen und zu einem umfassenderen Verständnis beitragen. Uns ist wichtig, dass die Abende nicht nur Wissen vermitteln, sondern den Diskurs fördern – sowohl im Austausch zwischen Fachleuten und Publikum als auch innerhalb unseres Dekanats.
Es gibt auch einen Workshop für Haupt- und Ehrenamtliche. Was passiert dort – und wer sollte unbedingt kommen?
Der Workshop ist als praxisorientierte Ergänzung konzipiert. Hier geht es um die konkrete Umsetzung im eigenen Arbeits- oder Ehrenamtskontext. Im Zentrum steht die Frage, wie bestehende Formate so gestaltet oder weiterentwickelt werden können, dass sie einsamkeitssensibel sind. Dabei werden Kriterien erarbeitet, die Teilhabe fördern, Barrieren abbauen und Stigmatisierung vermeiden. Der Workshop richtet sich an alle, die in Kirchengemeinden, Vereinen oder sozialen Initiativen Verantwortung tragen – unabhängig davon, ob sie haupt- oder ehrenamtlich tätig sind.
Welche Erwartungen knüpfen Sie an die Veranstaltungsreihe?
Mein Wunsch ist, dass das Thema Einsamkeit auch über die Veranstaltungen hinaus präsent bleibt. Ich wünsche mir, dass Kirchengemeinden, Vereine und andere Akteure bewusst Strukturen schaffen, die Begegnung fördern, Barrieren abbauen und Teilhabe ermöglichen. Dabei geht es nicht allein um neue Projekte, sondern auch um die Weiterentwicklung bestehender Angebote im Sinne von Offenheit und Zugänglichkeit.
Warum ist es wichtig, gegen Einsamkeit aktiv zu werden?
Einsamkeit verursacht einen hohen individuellen Leidensdruck. Sie kann das Wohlbefinden erheblich beeinträchtigen und das Selbstwertgefühl mindern. Hinzu kommen mögliche gesundheitliche Folgen: Anhaltende soziale Isolation steht in engem Zusammenhang mit Depressionen und Angststörungen, aber auch mit körperlichen Erkrankungen, etwa Herz-Kreislauf. Darüber hinaus hat Einsamkeit eine gesellschaftliche Dimension. Wer dauerhaft am Rand sozialer Netzwerke steht, ist empfänglicher für einfache, polarisierende Antworten. Besonders junge Menschen, die von Einsamkeit betroffen sind – oft auch, weil öffentliche oder gemeinschaftliche Räume fehlen – können anfälliger für populistische Strömungen werden.
*
DIE VERANSTALTUNGEN
Perspektive Soziologie: Donnerstag, 4. September, 19.30 Uhr
Einsamkeit und soziales Abseits – Wie wichtig es ist, gebraucht zu werden
Vortrag und Gespräch mit Prof. Dr. Nils Köbel, Katholische Hochschule Mainz
Perspektive Psychologie: Donnerstag, 9. Oktober, 19.30 Uhr
Allein unter Vielen – Wenn Einsamkeit zur Belastung wird
Vortrag und Gespräch mit Annelie Meis M.Sc., Psychologische Psychotherapeutin, JLU Gießen
Perspektive Theologie: Donnerstag, 23. Oktober, 19.30 Uhr
Zwischen Einsamkeit und Alleinsein – Wie sich zwei Aspekte ergänzen und abgrenzen
Vortrag und Gespräch mit Christian Wiener, Pfarrer, Zentrum Seelsorge und Beratung der EKHN
Workshop: Donnerstag, 25. September, 19 bis 21 Uhr
„Du bist nicht allein allein“ – Formate einsamkeitssensibel (weiter-) entwickeln
mit Franziska Wallenta, Referentin für Bildungsarbeit mit Familien, EKHN
Alle Veranstaltungen finden im Margaretha-Pistorius Haus des Dekanats statt: Bahnhofstraße 26 in 63667 Nidda. Der Eintritt ist frei. Für den Workshop ist eine Anmeldung erforderlich per E-Mail an maria-louise.seipel@ekhn.de
Evangelisches Dekanat Büdinger Land | Bahnhofstraße 26 | 63667 Nidda
E-Mail: Verwaltung
Telefon: 06043-8026-0
Fax: 06043-8026-26