Von Elke Kaltenschnee
( Büdingen/ek) - Lange Jahre war es in Büdingen so: Wer Kirchenmusik sagte, meinte Barbara Müller. Das hat sich am 1. September geändert. Die Kantorin der evangelischen Kirchengemeinde hat sich Anfang Juli mit 64 Jahren in den Ruhestand verabschiedet, und Anne Wagner hat die freigewordene Stelle als Kirchenmusikerin der Gemeinde übernommen.
Bevor sie nach Büdingen kam, war Anne Wagner als Krankheitsvertretung in Großenhain bei Dresden tätig gewesen. "Erst am 20. August wurde ich dort verabschiedet. Für den Umzug nach Büdingen blieb mir eine gute Woche Zeit. Das war ein nahtloser Übergang", sagt die junge Frau mit charmant rollendem
"R". "Ich komme aus Nordostoberfranken", erklärt sie auf Nachfrage: "Aus Naila. Aus dem allerletzten Winkel im Dreiländereck Thüringen-Sachsen-Bayern. Naila ist ein beschauliches Städtchen unweit von
Hof." Dort also ist Anne Wagner als Älteste von fünf Geschwistern aufgewachsen. Seit ihrem sechsten Lebensjahr spielt sie Klavier - und das "nicht ganz unbegabt", wie sie betont. Aufgrund ihres Talents
ermöglichten die Eltern ihr denn auch, das Jean-Paul-Gymnasium in Hof zu besuchen, das über einen musischen Zweig verfügt.
Mit zehn Jahren nahm sie Orgelunterricht. Ihre Motivation damals: Musik in der Kirche, das klingt so groß, so schön. Doch ihr Lehrer, der Kantor ihrer Heimatgemeinde, habe sie vor allem gottesdienstliche Werke spielen lassen. Sie habe sich bald gelangweilt und gab das Orgelspiel wieder auf. "Jahre später bin ich mit meiner Mutter an einer Kirche vorbeigelaufen, in der jemand auf der Orgel musizierte. Da hat mich wieder die Lust gepackt." Nach dem Abitur studierte sie Kirchenmusik an der Hochschule für evangelische Kirchenmusik in Bayreuth, machte ihren Bachelor- und anschließend ihren Master-Abschluss, B- und A-Kirchenmusiker hießen die beiden Abschlüsse damals noch. Nebenbei erwarb sie je ein Diplom für Klavierpädagogik, Orgel und Künstlerische Chorleitung. "Man muss so vielfältig wie möglich ausgebildet sein" habe sie damals gedacht. "Wenn es nicht geklappt hätte mit der Sakralmusik, hätte ich immer noch an einer Musikschule unterrichten können." Ein Plan B ist in Anne Wagners Metier kein Fehler, denn die Berufssituation von Kirchenmusikern ist nicht rosig. Die Zahl der Hundert-Prozent-Stellen hat sich in den vergangenen zwölf Jahren in der evangelischen Kirche Deutschlands etwa halbiert. "Einige meiner Kommilitonen, die genau das Gleiche gemacht haben wie ich, haben nach wie vor nur befristete 75-Prozent-Verträge." Kein Wunder, dass Anne Wagner sich lange unsicher war, ob sie Schulmusik oder Kirchenmusik den Vorzug geben sollte. "Meine Mama sagte damals: 'Studier' was G'scheit's.' und meinte Schulmusik. Ich sagte: 'Na, will ich nicht' und dachte: 'Zur Not kann ich immer noch Schulmusikerin werden.'" Ihre Eltern hätten eine Anstellung an einer Schule damals lieber gesehen, offenbart Anne Wagner. Doch sie hatte keine Lust, als Musiklehrerin Schülern, "die keinen Bock haben", etwas näherzubringen, was die Kinder und Jugendlichen überhaupt nicht interessiert.
"Nach einem Semester in Bayreuth wusste ich genau: Kirchenmusik ist genau das Richtige für mich. Und das habe ich am Ende meines Studiums immer noch gedacht." Kirchenmusiker sei der einzige Beruf, in dem man pure Musik machen könne, schwärmt sie. Deshalb brennt sie für ihn: "Meine Leidenschaft, meinen Enthusiasmus, meine Freude will ich weitergeben." Als Anne Wagner mit 25 Jahren ihr Studium beendet hatte, schloss sie ein Praxisjahr in der St. Michael-Gemeinde in Fürth an. "Als Berufsanfänger ist man allzu oft ziemlich unwissend. Im Studium haben wir nichts über Organisation, Büroarbeit oder Finanzen gelernt. Das fehlt einem dann später." Betreut von einer Mentorin konnte sie in Fürth ihr theoretisches Wissen um praktische Erfahrungen erweitern. Die Unterstützung und das Feedback ihrer Mentorin habe ihr viel gegeben. Sie habe zum Beispiel Konzertprojekte organisiert und gelernt, dass ihr die Arbeit mit Gruppen liegt. Auf das Praxisjahr in Fürth folgte die- zeitlich befristete Anstellung - in Großenhain. Auch dort war der Übergang nahtlos: "Eine Kommilitonin hatte mir die Stelle vermittelt, eine Krankheitsvertretung." Am 22. Oktober 2016 kam sie in Großenhain an; am 24. Oktober war ihr erster Arbeitstag. Ohne Einführung. Nur mit wichtigen Eckdaten ausgerüstet. "Der klassische Sprung ins kalte Wasser. Eine ziemlich gute Schule", kommentiert Anne Wagner lachend. Die junge Frau fühlte sich wohl im Sächsischen. Sie fand sie in der Kleinstadt schnell Anschluss. Nette Kollegen, nette Mitarbeiter, nette Einwohner. Deshalb ist es ihr nicht leicht gefallen, Großenhain nach einem dreiviertel Jahr wieder zu verlassen. Der Trennungsschmerz sei groß, auch wenn die Zeit in Großenhain kurz gewesen sei. Das müsse sie noch verarbeiten. "Drei Umzüge in drei Jahren, das reicht mir", sagt sie denn auch. In Büdingen hat sie eine unbefristete volle Stelle als Kantorin - und sie hat vor zu bleiben.
Musikalisch setzt die 28-Jährige auf große Bandbreite und gute Durchmischung. Obwohl sie von sich sagt, sie sei "Fan der urtypischen klassischen Kirchenmusik" und: "Es geht nichts über Bach", kann sie sich auch Gospel- und A Cappella-Gottesdienste vorstellen. Musik aller Epochen, alle Stückgrößen, große Bachwerke und Konzerte mit Chor und Orchester sowieso. Doch sie will sich noch nicht festlegen, sondern sich einen Überblick verschaffen, an die neue Aufgabe herantasten. In den nächsten Wochen werden sich die Kirchengemeinde und die neue Kantorin also erst einmal in den Gottesdiensten beschnuppern. Die Sänger der Chöre - Spatzenchor, Kinderchor, Jugendchor, Kirchenchor und Kantorei - und die neue Chorleiterin werden sich kennenlernen und aneinander gewöhnen. Bis Ende des Jahres will Anne Wagner es behutsam angehen lassen, die Chöre nicht überfordern. Wobei auf einige Sänger und die Leiterin schon eine veritable Herausforderung wartet: Am 12. November singt die Regionalkantorei in der Marienkirche Musik der Reformation aus den fürstlichen Archiven. "Wir müssen jetzt schon voll in die Probenarbeit gehen und uns in kürzester Zeit aufeinander einschwingen." Der Neu-Büdingerin gefällt die kleine Stadt übrigens jetzt schon gut. "Ich bin kein Großstadtmensch", bekennt sie. Büdingen habe genau die richtige Größe. "Außerdem sind alle so freundlich hier. Die Menschen, denen ich begegne, haben so eine Grundfreundlichkeit. Sogar in den Geschäften wünschen mir alle einen schönen Tag." Ja, Anne Wagner ist angetan von der Stadt, der Offenheit ihrer Bewohner, ihrer neuen Wohnung, ihren Nachbarn in Aulendiebach und nicht zuletzt von ihrer neuen Wirkungsstätte, der Marienkirche. "Hier kann ich heimisch werden", sagt sie zum Abschluss bestimmt und wirkt dabei, als wäre es ihr ernst damit.
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